DE RONDE

Die Flandern Rundfahrt ist nicht nur meiner Meinung nach der schönste, ehrlichste und spannendste Rad-Klassiker. Start auf dem historischen Markt in Brügge, der lange windanfällige Anlauf in Küstennähe, mehr als 20 steile Rampen, mehr als 50 km Kopfsteinpflaster und dann das von hunderttausenden Zuschauern verfolgte Finale. Früher über die gefürchtete Muur von Geraardsbergen und den Bosberg nach Ninove.

Seit 2012 wurde das Finale geändert, Leider sind Tenbossche, Muur und Bosberg nicht mehr drin. Die Runde endet jetzt in Oudenaarde. Dahin müssen die Profis insgesamt dreimal über den Oude Kwartemont und den Paterberg. Wir ‚Touristen‘ nach ca. 180 km eine erstes und zum Schluss noch ein zweites Mal.

                 Oude Kwaremont                                                           Paterberg

Die Tour-Version auf der Originalstrecke samstags vor dem Profirennen, Anfang April – ein Muss für ambitionierte Rennradler. Umständlich nur der organisierte Bus-Transfer vom Zielort zum Startort morgens in aller Frühe oder die private Rückfahrt nach der Tour per Mitfahrgelegenheit zum eigenen Auto am Start. 2013 hab ich in meinem VW-Bulli am Ziel in Oudenaarde gepennt. Zum Start muss ich um 5 Uhr einen der Charter-Busse erwischen. Um 4 klingelt mein Wecker. Als ich meine Augen aufschlage, traue ich ihnen nicht. Alle Fensterscheiben meines Busses milchig weiß. Von innen vereist. Das Kondenswasser an den Scheiben gefroren. Mein Garmin zeigte -3 Grad Celsius. Erst ess ich mal den Topf Müsli, dann den Joghurt mit Bananen und Datteln. Der Kaffee aus der Thermoskanne ist noch schön warm.

Raus aus dem warmen Daunen-Schlafsack, rein die Radklamotten: Unterhemd, Armstücke, Kurzarmtrikot, Thermojacke, Windweste, kurze Trägerhose, Beinstücke, lange Windstopper-Hose, Buff um den Hals, Buff über die Ohren, lange Goretex-Winterhandschuhe, Merino-Socken und Neopren-Überschuhe. So viel kann ich gar nicht anziehen, wie ich bräuchte, um nicht mehr zu bibbern. Und wo soll ich das alles hinpacken, wenn ich’s später vlt. ausziehe? Meine Trikottaschen sind voller Proviant.

Zum Glück funktioniert im Bus die Standheizung. Kaffee gibt’s auch. Dazu stopf ich mir während der fast einstündigen Fahrt noch zwei Käsebrote rein. Vom Bushof zum Markt ist es in Brügge nicht weit. Welch ein Anblick. Tausende dick eingepackte bunte Radfahrer zwischen den edlen Fassaden der hohen Patrizierhäuser. Jeder ist erwartungsvoll gespannt. Viele kennen sich, starten in Guppen, suchen einander, scherzen miteinander. Manche ziehen noch was über, essen noch einen Happen, kontrollieren den Reifendruck, packen Ersatzschläuche weg oder füllen ihre Trinkflaschen mit heißem Tee.

Kurz nach 7.30 darf ich in einer 100er Gruppe los. Wie immer ist das Anfangstempo beängstigend hoch. Trotzdem versucht jeder die Gruppe zu halten. Bis der erste Verkehrsstopp die Gruppe teilt. Außerhalb der Stadt geht’s immer noch mit 35 über die Ausfallstraße Richtung Ostende. Aber es wird nicht mehr so hektisch gedrängelt, weniger hart beschleunigt. Etwa 40 sind wir. Ich suche meinen Platz im vorderen Mittelfeld der Truppe. Bis zu der Hügelzone bleiben wir zusammen.

Auf dem ersten Pflasterstück bei Kruishoutem fliegt meine Gruppe auseinander. Mir bleibt es ein Rätsel, wie schnell manche über diese holprigen Martersteine hinwegrattern, ohne an Geschwindgkeit zu verlieren. Dann folgen 17 Anstiege, etwa die Hälfte asphaltiert, die andere gepflastert, oft schadhaft, grob verlegt mit breiten Fugen und tiefen Löchern. Auf eine der schlimmsten Rüttelstrecken, der ca 2 km langen Paddestraat, biege ich mit 28 km/h ein. Am Ende rumpele ich mit 17 km/h von einem Spalt ins nächste Schlagloch. Aber ich genieße auch herrliche Teilstücke z.B. im Tal der Zwalm oder der schon in die Wallonie hineinführende Hotond (Kruisberg). Auch die Region um Markedal ist landschaftlich schön, typisch flämisch, sanft geschwungene Hügel, schmucke Dörfer, schmale gewundene Sträßchen.

Dort wartet der grün bemooste Koppenberg, bei allen gefürchtet, weil hier jedes Jahr zig Fahrer ausrutschen, hinfallen oder absteigen müssen und den nachfolgenden oft den Weg versperren. Diesmal liegen gleich vier Renner vor mir auf dem Pflaster. „Aan de kant! Op zei, op zei!“ Mein Schreien nutzt nichts. Der dritte fummelt an seiner Kette der zweite stellt sich grad wieder hin und mir genau vors Rad, als ich mich zwischen ihm und seinem noch liegenden Nachbarn hindurchquälen will. Ich steh quer, mein Vorderrad in einem Spalt, mein Hinterrrad dreht durch. Ich komm nicht mehr voran, klicke aus, muss absteigen und mindestens 50 m schieben, ehe ich wieder aufsteigen kann. Dabei bin ich im letzten Sommer diese bis zu 22 % steile Rutsche ohne Schwierigkeiten zweimal hintereinander hoch gefahren. Aber in der ‚Ronde‘ selbst hab ich diesen Buckel noch nie bezwungen.

In Kwaremont stehen wie immer einige Zuschauer an den Cafés und den Bierständen, die auch schon samstags „Vlaanderens Mooiste“ hoch leben lassen. Der Anstieg im Dorf ist gar nicht so schlimm. Schwer wird erst der weiter ansteigende Ausläufer zur Nationalstraße hin. Wenige Kilometer weiter bäumt sich dann der „Paterberg“ auf. Nur 360 m höllisch schlecht liegendes Pflaster, das durchschnittlich 12.9 % und im Maximum 20 % steil ist. Wie stolz ich hier unter dem Banner am oberen Ende durch rolle, als ich meinen Platz im Feld hab halten, ja sogar um zwei Plätze verbessern können.

Zum Schluss dann die Zieldurchfahrt auf der Minderbroederstraat in Oudenaarde. Letzter Stempel, die Urkunde und die Gratulation der Mitstreiter. Für ein finisher-shirt leg ich meine abgestempelte Teilnehmerkarte vor, muss aber trotzdem zahlen. Ein Fläschchen Kwaremont-Bier gibts noch gratis. Einige mehr genieße ich mit leckeren belgischen Frites. Dann kriech ich für eine zweite Nacht in meinen VW. Morgen schau ich mir erst noch die Profis an.

 

 

 

Vor 10 Jahren gab’s von Hand ausgefüllte Plastik-Urkunden. Bei inzwischen 10.000 Teilnehmern sind die nicht mehr drin.