Canterbury plains

Nach einer Nacht mit solchem Dauerregen sieht die Welt eines Radlers aus dem pitschnassen Zelt ganz schön traurig aus. Um 8.00 regnet es seit mehr als 9 Stunden. Im Zelt ist alles trocken, aber der Zeltboden schwitzt. In der Nacht wehte kein Luftzug durch mein Innenzelt. Die hohe Luftfeuchtigkeit kondensiert am kalten Boden. Das Außenzelt hängt durch. Ich muss raus, nachspannen. Um mein Zelt herum mehrere Quadratmeter große Pfützen. Der Rasen aufgeweicht matschig. Die Häringe stecken in Butter. So mzusammenpacken?

Erst mal Frühstück. In der Küche riecht es muffig feucht. Viele Zelter haben irgendwelche feuchten Hosen, regennasse Jacken oder Schuhe ins Trockene gebracht. Sie selbst trinken Kaffee oder Tee in klebrigen T-Shirts und feuchten Shorts. Manche huschen unter Kapuzen zum WC oder der Dusche. Zwei Mädchen putzen sich die Zähne am Spülbecken in der Küche, weil sie wohl nicht noch mal raus in den Regen wollen.

Joes roten Draht-Locken macht das bisschen Wasser nichts. Den in Neuseeland lebenden englischen Gravelbiker, der aussieht wie der jüngere schlacksige Bruder von Prinz Harry, hab ich schon in Marfells Beach und in Kaikoura getroffen. Er ist mit Mini-Gepäck und Micro-Zelt unterwegs, fährt möglichst keinen Asfalt, sondern die harten Nummern: Rainbow Road und Molesworth Muster Trail. Tagelang nur Schotter und gewaltige Höhenunterschiede. Heute will er über den Lewis Pass. Asfaltstraße, weil es so regnet. Da sind ihm die Trails zu matschig. Zu meinen Bedenken, bei dem Sauwetter überhaupt zu fahren, lacht er nur: „Franz, du hast 8 Wochen. Wenn du an den Regentagen nicht fährst, musst du zwei Wochen dran hängen.“

Also im Regen einpacken. Meine beiden älteren Zelt-Nachbarinnen ( bestimmt früher mal Lehrerinnen gewesen) schauen aus ihrem großen trockenen Vorzelt mitleidig auf mein pitschnasses und verdrecktes Bündel, das ich in die Tasche drücke, kommentieren aber typisch neuseeländisch trocken: „Not the best day to be on a bike!“, wünschen mir eine sichere Reise und haben noch Tipps für näher liegende Campingplätze als den, den ich mir heute ausgeguckt habe.

Einmal unterwegs ist alles nur halb so schlimm. Die ersten 30 km an meinem Lieblingsfluss entlang kenne ich ja schon vom Hinweg. Im Regengrau ist die Schlucht nur halb so schön. Dabei geht’s ja runter. Jetzt merk ich erst, wieviel ich gestern hoch gedrückt habe.

Ab Culverden wird’s flach. Nur die Hurunui Hills halten mich noch mal auf. Die Gegend wird nach der Wucht des Ozeans bei Kaikoura und dem Spektakel in der Waiau-Gorge eher langweilig. Einzig die ‚Limestone-Rock‘-Formationen am Weka-Pass bringen etwas Abwechslung ins sonst übliche Grün der Schafweiden.

Das nördliche Canterbury ist eine Ebene von fünf großen Flüssen durchzogen, die alle in der Bucht von Christchurch ins Meer fließen. Die ‚Canterbury plains‘ gehören zu den niederschlagärmsten Regionen Neuseelands. Die Flussbette sind hunderte Meter breit, aber im Sommer fast trockene Geröll- und Steinwüsten, in denen nur schmale Bächlein ihren Weg zum Meer suchen. Typisch für die Lage östlich der Alpen, in der es meist längere trockene Perioden gibt, weil sich die von Westen hereinwehenden Regenwolken über dem Gebirge schon abgeregnet haben. Das merke ich auch heute. Je südlicher ich komme und die Berge hinter mich lasse, um so wärmer wird es. Kein Tröpfchen fällt mehr. Als ich nachmittags im vollen Sonnenschein in Amberly mein klatschnasses Zelt aufbaue, ist es trotz Windstille abends um 19.00 Uhr trocken und einigermaßen durchlüftet.

Am Montagmorgen ist es um halb neun schon richtig warm. Meine Radklamotren, die ich gestern Abend noch ziemlich nass aufgehängt habe, kann ich trocken anziehen. Das luftgetrockene Zelt ist viel leichter als gestern vor allem riecht es besser.

Der ‚Scenic Route 72‘ folge ich heute, auch morgen noch, wahrscheinlich dann noch zwei Tage. Mehrere Hundert km lang fast eben führt die Straße von der Region Christchurch an die Ostseite der ‚Alps‘. Der mäßige Verkehr nimmt ab, je westlicher ich komme.

Um Sehenswertes zu entdecken, müsste ich Abstecher machen, die mir bei diesen Temperaturen nicht attraktiv genug sind. Ärgerlich der erste Plattfuß vor Oxford nach insgesamt 1800 km. Ich darf nicht klagen.

In dem kleinen Dorf mit dem großen Namen hab ich zwar erst 60 km hinter mir, aber es ist 15.00 Uhr und glühend heiß auf der schattenlosen Straße. Wann die nächste Ortschaft kommt, vor allem was sie bietet, ist nicht klar. Die Werbung für eine Backpacker-Unterkunft lockt mit ihrem bescheidenen Komfort den Bequemling in mir. Eine ursprünglich chinesische Familie hat hier eine neue Low-Budget-Unterkunft eröffnet, in der ich mich sofort wohl fühle.

Bambusfußboden, gute Betten, (alleine im 10 Bettdorm) ansprechend eingerichtet, moderne, technisch einwandfreie Nassräume und eine riesige Einbau-Gemeinschaftsküche mit allem, was man zum Kochen braucht. Wie glücklich die Eigentümer strahlen, als ich ihnen sage, so ein gepflegtes und gut eingerichtetes ‚Backpackers‘ hätte ich auf der ganzen Südinsel noch nicht angetroffen.

Den Bergen komme ich immer näher. Die 72 bleibt aber flach und schnugerade. Nur die Abs und Aufs an den Flußtälern bringen Abwechslung. Schon gegen 14.00 Uhr bin ich am Rakaia River, der sich hier tief in eine breite Schlucht eingegraben hat.

Der Campingplatz oberhalb der Brücken bietet eine tolle Aussicht.

Unter der Betonbrücke finde ich eine kleine Bucht, in der ich schwimmen kann. Doch das Flusswasser ist ganz schön kalt.

In sonniger gelegenen ’swimmingholes‘ ist die Wassertemperatur leider nicht anders. Aber ich fühl mich erfrischt. Die kalte Dusche am Campingplatz kommt mir danach angenehm warm vor.

Der Morgenhimmel über dem Rakaia läßt am Mittwoch wenig Sonne erwarten. Mir ist das recht. An den beiden letzten Tagen war’s mir fast zu warm. Bis Geraldine – meinem heutigen Ziel – bleibe ich weitere 80 km auf der Scenic Inland Road 72.

Nach dem ersten steilen und kurvigen Anstieg aus der Raikaia-Schlucht geht es nur gerade aus. Kaum mal eine Biegung, nur wenige, leichte Wellen in der Nähe der Flüsse. Ansonsten grau und flach. 70 km. Neuseeland ist nicht überall und immer abwechslungsreich. Selbst der Puddinghügel kann mich unter diese Wolken nicht wirklich erheitern.

Da ist ein Rolls Royce aus 1929 schon ein erfreulicherer Hingucker.

Über Opossums kann ich jetzt auch schreiben, da ich endlich einen einigermaßen fotogenen Kadaver finde. Die kleinen Räuber werden in Neuseeland als schlimmste Landplage gehasst, zumindest von Farmern, Gärtnern und Kleintierzüchtern. Aber auch viele Leute, die gerne draußen essen oder in der Natur picknicken, beklagen, dass diese – wieder mal aus dem ‚bösen‘ Australien – importierten Übeltäter alles fressen oder zumindest anfressen, was ihnen in die Krallen gerät.

Für Neuseeland typisch, inbesondere auch für die ‚plains‘ ist der Stolz der Kiwis auf ihre großen Tierfarmen. In einem Café in Mt Somers lese ich beim morgendlichen ‚long black‘, dass bei einem MTB-Rennen am Wochenende ein Streckenabschnitt durch die Mt Somers Station führt. Eine Farm hier ganz in der Nähe. Und jetzt kommen Hektargröße und Stückzahlen des Viehs, das auf dieser Farm lebt:

Mit „deer‘ ist wohl derartiges „Wild“ gemeint, das ich just vor dem Café fotografiert habe.

Sicherlich eine große Farm – auch für Canterbury. Aber Chris (der Junge, der mit mir Kanu gefahren ist) hat mir erzählt, dass am Waiau-River eine Schaffarm 235.000 Hektar groß ist und auf ihr über eine Million Schafe leben. Sie ist vor wenigen Jahren an einen chinesischen Konzern verkauft worden. Das bedauern mit Chris viele  Neuseeländer, die einen Ausverkauf neuseeländischen Eigentums und einen Niedergang der nationalen Produktivität befürchten. Die größte Farm Neuseelands liegt noch etwas nördlicher zwischen Hanmer Springs und Blenheim. Die Molesworth Station ist 1807 Quadratkilometer groß. Über 10.000 Rinder werden hier gehalten. Sie ist in staatlichem Besitz.

Die 72 sieht immer noch gleich aus. Nur windiger und dunkler wird es. Hohe, dichte Schutzhecken und Waldstücke bieten immer wieder Windschatten. Spaß hab ich dann an dem Verfolgungsrennen europäischer Reiseradler auf der anderen Straßenseite. Erst kommt die junge drahtige Maria aus Südtirol. Die fährt bei heute kühlen 16 °C im Top. Sie sprudelt vor Freude über den Rückenwind, Mit Rennlenker und Scheibenbremsen auf ihrem  Straßenrad hat sie es eilig. Ihr ist ein junger Franzose auf den Fersen mit einem Gravelbike von Kona. Der sagt mir nicht einmal seinen Namen, sondern hinter ihm kämen eine Polin und ein Österreicher, er wolle aber mit Maria fahren. Darum ruft er raschh ‚good bye‘ und tritt wieder an. Valeria aus Kattowitz lebt in Freilassing und spricht fehlerloses Deutsch. Ihre dunklen, langen Locken weht der Wind in ihr sommerlich rotbraunes Gesicht, das vom Radfahren ein wenig glüht. Sie erzählt gerne, wo sie schon überall war auf der Südinsel und was ich mir unbedingt anschauen muss. Den Franzosen wolle sie sowieso nicht einholen. Der Österreicher hinter ihr sei auch ganz nett. Als der aber verschwitzt mit hochrotem Kopf und den Radhelm im Nacken bei uns beiden anhält, verabschiedet sie sich schnell und fährt wieder los. Der eindeitig langsamste der vier mit dem schwersten Rad grüßt dann auch nur kurz. Möglichst rasch will er wieder antreten, rutscht vom linken Pedal und torkelt. Dem armen Kerl gehen die Kräfte aus. Dabei wollen sie alle zur Rakaia Gorge, wo ich heute herkomme, haben auch alle am gleichen Ort übernachtet. Warum die nicht mit, sondern gegen oder zumindest hintereinander fahren?  Keine Ahnung – ich glaub, das wissen sie selber nicht. Bei der amüsanten Geprächsfolge hab ich in der Eile nicht mal Zeit gehabt zu fotografieren.

Trostlos sieht das angeblich so hübsche Geraldine im Regen aus. Eine andere Unterkunft als einen Zeltplatz kann die Dame vom I-site mir leider nicht vermitteln. Also Nass in Nass-Aufbau, heiß duschen, viel essen, ein großes Gingerbeer und in den Schlafsack.