Dauerregen in den Pyrénées Atlantiques

Dienstag, 11.  07. 00: Saint-Sever – St. Jean Pied de Port

11.etappe: St. Sever- St. Jean Pied d. Port 120 km 18,9 km/h insg.1455 km

Es regnet, als ich um 6.30 uhr aufstehe. Trotzdem bin ich richtig heiß auf die Pyrenäen. Als ich in den speisesaal komme, schlürfen dort vier junge mädchen cafe au lait. Ob das die pfadfinder sind? Ich grüße nur, packe meine sachen aufs rad und fahre in die pinte zum frühstück. Aber die ist noch zu. Also zum bäcker und in den lebensmittelladen. Mein erstes frühstück (baguette mit konfitüre und käse sowie 1 l kakao) verdrücke ich unter den arkaden des office de tourisme. Die eingekauften sachen fürs zweite frühstück verstaue ich wasserdicht in meinen radtaschen.

Als ich Serge den schlüssel und 30 ff als spende bringe, schätzt er, bis Roncesvalles seien es ca. 140 km. Dann ist es fraglich, ob ich bei dem wetter heute dorthin komme, denn am schluss kommt erst der Ibaneta-pass. Serge meint, ich müsste bis zur passhöhe mehr als 20 km klettern. Nach der Michelin-karte sind es auch 19 km. Ich werd’s schon merken.

Um 8.00 uhr fahre ich los. Regenjacke an – es hört auf zu nieseln. Regenjacke aus  – es fängt an zu tröpfeln. Manchmal kommt sogar die sonne durch. Es weht kaum wind. Dann geht ein heftiger schauer nieder. Auf den 12 km bis Hagetmau steigt es drei mal an. Aber heute fällt mir das klettern gar nicht schwer. Die berge um mich herum werden allmählich höher, aber die anstiege sind nur mäßig steil. Nur hinter Momuy muss ich auf einem kurzen aber steilen stück aus einem bachtal heraus. Bis Orthez sind es 37 km und trotz des regens und weiterer anstiege erreiche ich einen schnitt von 21 km/h.

In Orthez ist markttag und unglaublich viel los. Es gibt viel zu sehen, vor allem die landestypischen käse und würste, sowie die selbstgemachten konfitüren und honige interessieren mich. Ich kaufe einen harten ziegenkäse, der alle bisher gegessenen in den schatten stellt. Leider weiß ich nicht, wie er heißt. Die bäuerin hat ihn mir von einem größeren laib abgeschnitten und in butterbrotpapier gewickelt. Also finde ich auch keinen namen auf seiner verpackung.

Die hauptdurchgangsstraße von Orthez ist gesperrt. Ich fotografiere die alte brücke, verliere aber in den seitenstraßen die orientierung und muss einen basken nach dem weg fragen. Nach einer zweiten runde durch die menschenmenge im ortszentrum finde ich endlich die straße nach Sauveterre de Bearn.

Jetzt geht’s richtig los. Regen und happige steigungen. Trotzdem bin ich um 12 uhr in Sauveterre. Ein wunderschönes dorf, das zurecht in einem buch über die attraktivsten dörfer Frankreichs aufgeführt ist. Die kirche verfügt noch über ein gut erhaltenes tympanon, das Christus als könig und die vier symbole der evangelisten darstellt: einen engel für Matthäus, einen löwen für Markus, einen widder für Lukas und einen adler für Johannes. Die kirche verfügt auch über eine niedrige kleine tür im seitenschiff, durch die im mittelalter die nicht getauften kirchenbesucher eintreten mussten.

Von der kirche aus habe ich einen herrlichen blick auf das schloss und die „brücke der legende“. Leider kann mir niemand die legende erzählen, auch nicht die angestellte im tourismusbüro. Sie zeigt mir aber einen lediglich gehefteten pilgerführer eines ortsansässigen heimatforschers, der den fusspilgerweg in dieser gegend genau beschreibt. Allerdings führt der weg durch wiesen und zwischen feldern auf glitschigen matschpfaden nach St. Palais. Ich ziehe die straße vor.

Als ich den Oloron überquere, kommen mir zwei deutsche radpilger entgegen  – übrigens die ersten, die ich auf meiner pilgerreise treffe. Als ich sie frage, ob sie auf dem rückweg sind, fragen sie erstaunt, wie ich darauf käme. Ich erfahre dann, dass sie von Pau aus durch das Oloron-tal geradelt sind, um nicht so viel klettern zu müssen. Die beiden brüder kommen aus Düsseldorf, sind beide rentner, fahren teure Koga-Myata trekking-räder und sind auch kleidungsmäßig gut ausgestattet. Sie radeln täglich etwa 80 km, machen nach jedem 5. tag eine pause und übernachten in hotels. Zumindest einer spricht gut spanisch, weil er früher oft in Spanien geschäftlich zu tun hatte. Dort hat er auch erstmals vom jakobsweg gehört und hat nun seinen bruder überreden können, mit ihm zu radeln. Letzterer scheint etwas schwerer und ein weniger geübter radfahrer zu sein. Sie wollen in Sauveterre zu mittag essen. Ich fahre weiter, weiß aber schon jetzt, dass ich in anbetracht des wetters und der fortgeschrittenen zeit heute nicht mehr über den Ibaneta fahren, sondern in St. Jean Pied de Port übernachten werde.

Vor St. Palais treffe ich den ersten fußpilger, einen älteren mann aus Verdun, der in seiner heimatstadt los gegangen ist und täglich ca. 30 km zurücklegt. Er will heute in St. Palais übernachten. Die letzten kilometer bis dort sind landschaftlich reizvoll, fast flach, überraschend ruhig und gemütlich zu radeln. Wenn nur der regen nicht wäre! Leider ist in St. Palais wegen der mittagszeit alles geschlossen. Dabei habe ich schon wieder allen proviant verdrückt.

Ich finde hier die ersten offiziellen verkehrsschilder, die den ‚Chemin de St. Jacques‘ ausweisen, übrigens zweisprachig – französisch und baskisch. An einer kreuzung stoße ich auch auf die abzweigung zur ‚Stele von Gibraltar‘. Dieser gedenkstein steht seitlich aus dem tal der Joyeuse heraus fast 200 m höher als der ort. Dorthin muss ich über 4 km klettern bei teilweise mehr als 10%iger steigung. Als ich oben ankomme, bin ich zunächst enttäuscht. Unglaublich, in welch unscheinbarer umgebung dieses so bekannte kreuz steht, das den ort kennzeichnet, an dem die drei haupt-pilgerwege nach Santiago de Compostela  zusammen treffen. Drei wirtschaftswege zwischen ein paar bauernhäusern und einem misthaufen münden an einer kleinen rasenfläche ineinander und führen als schotterweg weiter richtung Ostabat. In ihrer schlichtheit ist die säule beeindruckend, aber mehr noch wegen ihrer vergangenheit: wer mag hier schon alles gestanden haben?

Natürlich will ich den stein fotografieren, habe aber mein letztes bild in St. Palais abgeknippst, obwohl das zählwerk erst die zahl 20 zeigt. Hier kann ich keinen neuen film kaufen. Mist! Ein wenig enttäuscht wegen der fast unwürdigen platzierung der stele und stinksauer wegen des fehlenden fotos lasse ich mich ins tal nach Uhart-Mixe fallen. Dort komme ich wieder auf die D 933 und auch wieder in den strömenden regen. Aber am oberkörper bin ich immer noch trocken. Die Löffler-jacke ….

Bis zur abzweigung nach Ostabat sind es 5 km. Der ort selbst ist völlig unscheinbar. Im strömenden regen kann ich keine spuren des jakobsweges entdecken, außer einem modernen denkmal, das das zusammentreffen der drei pilgerwege symbolisieren soll. Aber einen stempel von dieser so häufig erwähnten pilgerstation hätte ich gerne. Die kirche ist verschlossen. Einen priester kann ich nicht finden. Das ‚maison culturelle‘ wird gerade renoviert. Der darin arbeitende putzer schickt mich zum bäcker, der sei nämlich der bürgermeister und hätte einen stempel. Aber es ist 14.30 uhr. Die bäckerei hat zu. Ich klopfe. Frau bäckermeisterin schüttelt hinter der verschlossenen ladentür den kopf, bis ich ihr meinen pilgerpass zeige. Ohne eile schließt sie auf, bittet mich herein und gibt mir einen stempel.

Ich kaufe zwei ‚pain aux raisins‘, schokolade und eine tüte orangensaft. Beim hinausgehen sehe ich, dass madame sogar fotofilme führt. Obwohl ein einfacher 24er kodak fast 12 DM kostet, möchte ich einen kaufen. Aber ich habe nicht mehr genügend französisches geld. Sie akzeptiert weder spanische peseten noch DM und eine bank hat der ort nicht. Also auch kein foto von Ostabat!

Auf dem letzten teilstück bis St. Jean Pied de Port regnet es weiter, aber nicht mehr so stark. Im vorletzten anstieg vor dem ort hole ich einen fußpilger aus Paderborn ein, der seit karfreitag unterwegs ist. Wolfgang erzählt viel und gern, geht dabei aber unentwegt weiter und zwar 6 km pro stunde, wie ich auf meinem zähler feststelle. Bekleidet ist er mit einem traditionellen pilgerhut, kurzer lederhose und weitem umhang, aber ansonsten ganz modern ausgestattet mit Tevla sandalen – ohne socken – funktionsunterwäsche, blinky-diodenleuchte und handy, führt aber auch den gebräuchlichen pilgerstab und eine kürbisflasche mit.

Oben auf dem berg erreiche ich einen radler aus Coburg, der bisher in 22 tagen 1900 km zurückgelegt hat: erst am Neckar entlang nach Heidelberg, dann Straßburg, Dijon, Lyon, nach Puy en Velay dann über den Aubrac und von dort die traditionelle ‚podensis‘ pilgerroute. Er ist also unglaublich viel geklettert. Aber hier führt er sein rad. Wolfgang, der Westfale, der – gegen seine gewohnheit – bei uns stehen bleibt, als er uns an einem pilgerkreuz miteinander reden sieht, bittet mich, in St. Jean für ihn ein quartier zu buchen in einer pilgerherberge und am ortseingang einen zettel unter einen stein zu legen, auf dem ich den weg zur herberge kurz beschreibe, damit er keinen umweg bzw. keine unnötige steigung zu gehen brauche.

St. Jean Pied de Port liegt nämlich beträchtlich höher als das Flüsschen Nive. Zur zitadelle oberhalb des ortes muss ich mindestens zwei kilometer tüchtig strampeln. Aber dafür komme ich dann durch das ‚Jakobstor‘ auf dem historischen pfad in den ort, auf dem schon seit mehr als tausend  jahren die pilger in den ort gelangen. Heute bin ich nicht der einzige. St. Jean Pied de Port ist voller leute. Es sind wohl eher touristen als pilger, die sich vor den souvenirläden und anderen geschäften  drängeln, am ‚pont romain‘ erinnerungsfotos schießen, die pilgerherbergen begutachten und die speise-karten der restaurants studieren.

Hier wird der camino real eingeleitet, aber zugleich verkauft: pilgerstuben, pilgerfiguren, pilgerbeutel, pilgerhüte, pilgerkarten, pilgerführer gehen hier weg wie warme semmeln zusammen mit baskenmützen, baskischer tischwäsche, baskischer keramik sowie mineralien aus den Pyrenäen und allem was sonst noch „artisanal“ zu verkaufen ist. Dazu pizza, postkarten und pastis – alles zu überhöhten preisen.

Wenn die alle durch Spanien laufen, die hier einkaufen, dann ist der camino proppevoll. Also muss ich schauen, dass ich rasch weiter komme. Es regnet nicht mehr. Aber jetzt noch über den pass? Es ist fast 17.00 uhr. Zu spät um jetzt noch 20 km zu klettern.

Gleich finde ich das büro der jakobsgesellschaft. Der leiter des büros kennt Aachen und auch ‚Kuni‘ – wie er sagt – den leiter der in Aachen ansässigen Deutschen Jakobsgesellschaft. Seine helferin führt mich zu einer altehrwürdigen herberge, die äußerlich unverändert geblieben ist seit dem 17. jahrhundert. Im innern wurde sie behutsam renoviert, verfügt über geräumige schlafsäle für 10 und 12 pilger, neue duschen und eine recht spartanisch ausgestattete küche. Aber etwas vom charme einer mittelalterlichen herberge ist bewahrt geblieben durch natursteinmauern, niedrige deckenhöhen, schmale stufen und gänge.

Mein rad kann ich im engen treppenhaus auf einer art sims abstellen, wo ich es an wasser- und stromleitungen ankette. Nicht benötigtes gepäck lasse ich auf dem rad. Das größte problem ist es hose, strümpfe und schuhe zu trocknen. Obwohl ich ein unteres etagenbett zugewiesen bekomme, klemme ich rund ums bett zwischen der oberen matraze und dem bettrahmen meine nassen sachen. Der junge franzose, der über mir liegt, hat nichts dagegen. Außerdem sind im saal noch zwei spanier, zwei lichtensteiner und eine junge engländerin untergebracht. Gegen 18.00 uhr bekommt Wolfgang, den ich im pilgerbüro angemeldet habe, das letzte freie bett. Der Westfale bedankt sich für den zettel, den ich ihm unter das ortschild gelegt hatte, obwohl ich dafür den anstieg in den ort noch einmal nehmen musste.

Auf meinem rundgang durch die stadt treffe ich auch die beiden Düsseldorfer wieder. Sie haben sich in einem drei-sterne-hotel einquartiert, wollen aber auch einmal einen blick in meine herberge werfen. Die unterkunft finden sie recht gut ausgestattet – was ich nur bestätigen kann – verabschieden sich dann aber leicht schmunzelnd richtung hotel. Den radler aus Coburg habe ich nicht mehr gesehen.

Es ist jetzt sieben uhr. Ich habe gerade mit Sara telefoniert und gehe nun mit Wolfgang essen, der begeistert erzählt von ’seinem‘ jakobsweg über Linz am Rhein. Er ist unheimlich gut drauf, trotz des hörschadens, weswegen er aus dem schuldienst ausgeschieden ist. Auf seiner pilgerschaft hat er unglaublich viel gesehen und erlebt. Zum beispiel hat er an der Marne eine nacht (im april) in einem alten unterstand aus dem krieg geschlafen und sich dabei so erkältet, dass er anschließend an grippe erkrankte und eine woche bei einem priester bleiben musste. Mit freunden und kindern ist er ständig in kontakt. Mir hat er das verschicken von sms-nachrichten mit meinem handy erklärt.

Über seine pilgerschaft schreibt er zeitungsreportagen, von denen er mir die bereits im ‚Paderborner Boten‘ abgedruckten lesen lässt. Eine seiner selbst gestalteten pilger-visitenkarten schenkt er mir. Das goethe-zitat darauf gefällt mir gut (siehe seite 2). In seinem eintrag ins gästebuch der pilgerherberge bezieht er überaus kritisch position gegen den pilgerrummel, wie er sich hier in St. Jean Pied de Port zeigt. Bis 11.00 uhr sitzen wir noch in der küche der herberge zusammen und quatschen.

In der stark frequentierten nasszelle der pilgerherberge finde ich keinen geeigneten spiegel und auch keine zeit, meine spröde mundpartie zu begutachten. Ich trage nur etwas babycreme auf und spüre dabei, dass die heilung noch nicht fortgeschritten ist. Aber meine rechte hand fühlt sich wieder normal an. Wie konnte ich nur so dumm sein und fast eine woche ohne handschuhe fahren?