DISTANZ VERLUST

Homs, 27-10-2008

Seit vier tagen bin ich etwa in Syrien. 270 km bin ich hier geradelt. Da darf ich eigentlich noch nichts über dieses land schreiben, sicherlich noch keine beurteilungen vornehmen. Anhand einiger beobachtungen und kleiner begebenheiten, versuche ich zu skizzieren, was hier anders ist.

Der nordwesten Syriens gleicht einem ein steinernen meer. Steine, felsen, geröll, wohin ich schaue. Verblüffend wie auf den wenigen ansteigenden km zwischen türkischem und syrischem zoll die landschaft versteinert. Dennoch finden sich zwischen all den grauen brocken noch kleine ackerparzellen, deren böden mehrere bauern an diesem morgen mit pferd und einscharigem holzpflug mühsam bearbeiten. Ich fühle mich um jahrzehnte zurück versetzt.

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Syrien spricht und schreibt arabisch. Die schriftzeichen kann ich nur schwer unterscheiden und nicht lesen. Meine orientierung wird viel schwieriger. Prompt verfahre ich mich auf dem weg zum Simeonskloster. Lange, ohne es zu bemerken. Erst als die auf meiner karte angegebene distanz zum kloster schon weit überschritten ist, frage ich nach. 25 km fahre ich mehr. Kein einziger ist flach davon.

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In den ortschaften sind straßen und gehwege schadhaft, vielfach aufgerissen oder nur einfache schotterwege. Abends in Aleppo sind mein rad und meine taschen zementgrau vom feinen staub. Zwischen Aleppo und Hama fahre ich 135 km ‚autobahn‘ über einen einwandfreien glatten bitumenbelag, der jedem westeuropäischen anspruch stand hält. Dabei ist die straße nicht einmal neu.

Die anzahl von mopeds im straßenverkehr ist um ein vielfaches höher als in westeuropa. Auf mopeds finden auch drei und vier personen platz. Mehrfach überholen mich auf ihrem zweirad vater, mutter und zwei kinder  – das größere vor papa auf dem tank, das kleinere zwischen den eltern eingeklemmt.

Motorisierte fahrzeuge aller art sehe ich im straßenverkehr. Vom panzer-spähwagen und dreirädrigen bunt bemalten kasten mit aufgeschraubtem zweitaktmotor über fahrende cafés auf VW-bulli-basis und amerikanische straßenkreuzer aus den 60ern bis zum neuen Audi-geländewagen oder der Daimler-S-klasse. Höhe und neigung der lkw-ladungen nehmen dabei oft abenteuerliche ausmaße an.

Die anzahl von im straßenbild aufretenden frauen ist höher als in der Türkei. Manche ihrer auftritte scheinen selbstbewusst, z.b. sehe ich immer wieder frauen in cafés gelassen ihre zigaretten rauchen. Aber ich sehe in den drei tagen in Syrien mehr total verschleierte frauen als in einem ganzen monat in der Türkei.

Viele jungen treten mir gegenüber aufdringlich und fordernd auf. Sie betteln lautstark: Money, money! Wenn ich stehen bleibe, zupfen sie an mir herum oder fummeln an meinem rad. Einer greift in meine lenkertasche. Doch noch mehr stört mich, dass auch manche erwachsene nicht genügend distanz wahren:

Im restaurant bleibt der ober neben mir stehen und redet auf mich ein, während ich esse. Unbedingt will er, dass ich bei ihm übernachte, obwohl ich ihm schon gesagt habe, dass ich nach Aleppo will. Er preist sein großes haus mit dusche und wc in den höchsten tönen. 40 französische gäste hätten schon bei ihm übernachtet. Ich werde ihn kaum los und muss nachher einen völlig überhöhten preis zahlen für das essen.

Sowohl in Aleppo als auch in Hama treffe ich noch spät abends deutsch sprechende Syrer, die mich zu sich privat einladen. Ich lehne ab, mit der begründung, ich sei zu müde. Da reagieren beide fast pampig und mit unverständnis. Ich muss mich regelrecht behaupten.

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30 km vor Hama auf der vierspurigen straße an einem verkaufsstand für nüsse stellen sich ein vater und sein etwa 10-jähriges söhnchen mir derart wild gestikulierend und hüpfend in den weg, dass ich anhalte. Schon bald verstehe ich ihr anliegen: das fahrrad des kleinen ist platt. Sie wollen meine luftpumpe leihen. Kein problem. Wo ist denn das rad?, frage ich. Da nimmt der kleine meine pumpe schon vom rahmen, schwingt sich auf ein moped und verschwindet. Vater erklärt mir ganz ruhig bei tee und nüssen, das fahrrad stünde zuhause. Der junge wäre in ein paar minuten wieder da. Tatsächlich kommt etwa 10 minuten später das moped wieder zurück. Der große bruder fährt es jetzt. Der kleine sitzt hinten drauf und hält vor sich ein etwa 40 jahre altes Batavus Champion 28 zoll damenrad. Der hinterradschlauch ist platt, aber nicht defekt, wie ich beim pumpen feststelle. Ich pumpe auch den vorderreifen noch etwas auf. Da fragt der vater mich, ob ich nicht auch mal nach der hinteren bremse gucken könnte. Ich will weiter, zeige aber guten willen, indem ich die bremszange öle und den zug etwas strammer stelle. Schon hat der vater noch fünf stellen entdeckt, die ich ölen soll. Als ich schließlich mein werkzeug wieder zusammen packe, fehlt das ölfläschchen. Vater hat es schon ins nüsse-regal gestellt. Der ältere Junge hat in der lenkertasche meine kamera entdeckt. Jetzt soll ich noch ein foto machen. Gerne. Zum schluss schreiben sie mir ihre anschrift in arabisch auf einen kleinen zettel. In Damaskus könnte ich das foto ja drucken und ihnen dann zuschicken, meinen sie. Ich nicke nur und denke …

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Um 19.00 uhr komme ich in Hama der stadt der wasserräder an. Super gelaufen: 145 km, 22 km/h schnitt. Das knie habe ich gar nicht gespürt. Zugegeben: die strecke war potteben. Der wind half mir auch. Nach den vielen schweren tagen mit dem schmerzenden knie, bin ich heut abend so zuversichtlich. Zur feier des tages esse ich mal was zünftiges: huhn mit reis. Dazu gibt’s Humus, den kirchererbsenbrei und salat. Anschließend trinke ich noch einen leckeren frisch gepressten eiskalten obstsaft und auf dem hotelzimmer noch ein bier. Ich fühle mich so gut.

Aber auch meine bäume wachsen nicht in den himmel. 4 uhr in der Nacht: magenschmerzen, erbrechen, durchfall. Den ganzen sonntag bleibe ich im bett. Ständig muss ich zum klo. Kamillentee, wärmebeutel, Imodium und wasser

Erst am montag morgen kann ich wieder weiter. Aber wirklich fit bin ich nicht. Ich quäle mich über die 45 km bis Homs. Dabei ist kein hügel im weg und der asphalt genauso glatt wie vorgestern. Sind die 145 km doch zu viel gewesen? Oder bin ich einfach zu alt oder zu anfällig für die belastungen dieser reise?

In dem schlechten zustand heute ist mir alles zu viel und vieles zu wider: Der lärm und die abgase der autos, der müll und der gestank neben der fahrbahn, die toten schafe am straßenrand, die überfahrenen hunde, die plattgewalzten katzenkadaver, die vielen menschenunwürdigen behausungen vor denen armselig gekleidete kleinkinder im dreck spielen, die gräßlich-grauen beton-ruinen, die nicht endenden schutthalden, auf denen größere kinder nach verwertbarem suchen.

Wo kann ich mich mal hinsetzen? Wo kann ich mal in ruhe pause machen? Was gefällt mir heute? Was sollte ich fotogafieren? Woran können meine augen sich heute freuen? Was tut heute meiner seele gut?

In der hotelhalle in Homs laufen im tv syrische schlager-clips unterbrochen von werbe-spots. Die kluft zwischen der scheinwelt darin und dem, wie ich heute Syrien gesehen habe, ist unermesslich und entmutigend. Hier wird den menschen der gleiche konsum-kitsch vorgegaukelt wie bei uns. Nur dass die lebenswirklichkeit hier zumindest materiell um einiges ärmer ist als unsere. In meinem bauch rumort es wieder. Gegessen habe ich heute nichts. Ich verkriech mich in mein zimmer.