Durch die französischen Ardennen

Sonntag, 02. 07.:  Han sur lesse – Reims

2. etappe: Han sur Lesse – Reims 165 km 20,8 km/h  insg. 315 km

Ich bin viel zu früh wach, laufe durchs nach kaltem zigarettenqualm stinkende hotel. Niemand hat die ascher geleert, niemand die letzten gläser gespült. Gerne würde ich nachschauen, ob mein rad noch im schuppen steht. Aber das hotel ist verschlossen. Ich könnte zwar raus, aber nicht wieder rein. Also setze ich mich in den speisesaal und schaue auf die hauptstraße. Es hat tüchtig geregnet in der nacht, aber jetzt ist es trocken. Schräg gegenüber öffnet der bäcker gerade seinen laden. Die ersten kundinnen holen ihre brötchen. Manche frühstücken in der bäckerei im stehen.

Ich habe auch hunger und möchte los. Aber es ist erst halb acht. Ich packe in meinem zimmer alles zusammen und bringe es schon zum schuppen, in dem mein rad unberührt wartet. In die geöffnete hoteleingangstür stelle ich einfach einen schweren stuhl. Nachdem ich die radtaschen angeklemmt und auch das zelt und den schlafsack verschnürt habe, gehe ich ins hotel zurück. Die tür ist immer noch auf. Niemand ist zu sehen. Bis 20 nach 8 muss ich warten, ehe der junge mann mit seinem mofa die brötchen bringt. Gleichzeitig erscheint ein verschlafenes mädchen aus einem nachbarhaus und brüht kaffee auf. Bei dem mädchen zahle ich auch und radle gegen 8.45 uhr los.

Am sonntagmorgen ist es absolut ruhig auf den wallonischen straßen. Einer der orte, an denen ich vorbei fahre heißt ‚Ave et Auffe‘. Als ‚Platt‘-sprecher muss ich lachen, denn mit ein bisschen sprachphantasie muss man das doch ‚ab und auf‘ übersetzen. Und ab und auf geht’s den ganzen morgen. Aber autos sehe ich kaum. Stattdessen laufen mir ziegen über den weg. Nach Haut-Fays steigt’s – wie der name schon andeutet – heute zum erstenmal richtig an: vier kilometer durch einen eichenwald, gut ausgebaute gerade straße, kein haus, kein mensch. Ich finde es herrlich.

Mich wundert nur, dass ich keine rennradler sehe. Aber wer wohnt hier schon? Jetzt nieselt es leicht. Die jacke hält mich aber trocken und die schutzbleche schützen vor feuchtigkeit von unten. Ich muss zugeben, wir rennradler auf unseren nackten maschinen sind eitle fatzkes. Wir könnten auch bei regen mit trockenem po fahren, wenn wir nur solche spritzschützer montieren würden. Aber das ist undenkbar!

Bisher habe ich erst drei stempel in meinem pilgerpass (Aachen, Tüddern und Banneux). Ich möchte noch einen in Belgien bekommen, weil ich auf der strecke Banneux-Reims (über 230 km) gerne noch eine station nachgewiesen haben möchte. Lomprez erreiche ich gegen 10.15 uhr, als die letzten kirchgänger vom hochamt nach hause schlendern. Vor mir überquert ein älterer herr mit mehreren gesangsbüchern in der hand die straße. Ich frage ihn, ob er mir das pfarrhaus zeigen könnte. Aber er bedauert und erklärt mir, dass in Lomprez kein pfarrer mehr wohnt, sondern auswärtige geistliche die messen lesen. Als ich ihn frage, ob ich vielleicht an anderer stelle einen stempel für meinen pilgerpass bekommen könnte, meint er, am sonntag wäre nur der bahnhof von Gedinne geöffnet. Im gleichen atemzug fragt er nach ziel, dauer und streckenverlauf meiner reise. „Schade“, meint er, „dass ich schon so alt bin, sonst würde ich mit Ihnen fahren.“

Gedinne-station ist ein alter, heruntergekommener bahnhof. Auch am sonntagmorgen sitzt dort ein beamter mürrisch hinter dem schalter, der mir ohne ein wort zu verlieren einen stempel in meinen pilgerpass haut, als ich ihn darum bitte.

Als ich in Louette St. Pierre von der ohnehin schon ruhigen N 952 abbiege auf die kleine straße, die mich steil bergan nach 1 km zum schnuckeligen ehemaligen belgischen zollamt bringt, merke ich, dass ich eine fantastische grenzüberschreitende radstrecke gefunden habe: hügelig und anspruchsvoll im profil mit gutem, wenn auch grobem belag ohne verkehr durch einen ausgedehnten wald führend. Für rennradler ideal! Ich bin hellauf begeistert. Auch als ich das zerfallene französische ehemalige zollhaus entdecke. Welch ein kontrast zu dem schmucken belgischen häuschen! Mir fällt ein: „Nationalstaaten zerfallen – Europa wächst.“

In Linchamps stoße ich auf die route ‚Rimbaud-Verlaine‘. In Charleville-Mezières lese ich später, dass Rimbaud hier geboren wurde und zwischen dem 16. und 20. lebensjahr seine wichtigsten werke geschrieben hat. In dieser zeit lebte er hier als liebespaar mit dem 10 jahre älteren Verlaine zusammen, der sein talent entdeckte und ihn förderte, aber schließlich seine fern- bzw. wehmütigen depressionen und wahnvorstellungen auch nicht mehr ertragen konnte.

In Les Hautes Rivieres überquere ich den Semois, der sich hier ganz eng durch die Ardennen windet. Leider vergesse ich die alte brücke zu fotografieren, über die ich nach rechts abbiege, um dann in einem mehr als sechs km langen anstieg zum Col du Loup auf 383 m höhe zu kommen. Vom aussichtspunkt in einer spitzkehre kann ich in einem zwei bis drei kilometer entfernten tal die Maas erkennen, die sich hier auch ganz schön krümmen muss, um an den felsen vorbeizukommen. Nach Charleville-Mezières sause ich jetzt acht kilometer runter in das hier etwas offenere Maastal.

Es ist fast 12.00 uhr. An der kirche ‚Notre Dame‘ gefällt mir die rosette im portal, ein meisterwerk aus einer werkstatt in Metz, das vor seinem einbau in London ausgestellt wurde und auch einen preis bekam. In einem der fenster der josephskapelle ist Karl der Große dargestellt, der als gründer der stadt verehrt wird. Sankt Rochus und Sankt Anton entdecke ich, aber keinen Jakobus.

Als ich wieder aus der kirche herauskomme, hat sich der männliche teil einer taufgesellschaft um mein rad versammelt und einige der herren studieren gerade meinen routenzettel und die karte mit meinem heutigen tagesabschnitt. Sie fragen, ob ich nach Compostela pilgere, woher ich komme und ob ich nicht zuviel gepäck mit habe. Ich antworte, so gut es mein französisch zulässt. Mit einem aufmunternden ‚bon courage‘ werde ich von ihnen verabschiedet.

Der rechteckige und auf drei seiten von fast gleich aussehenden backsteinhäusern aus dem 18. jahrhundert umgebene marktplatz von Charleville-Mezieres gefällt mir so gut, dass ich auf der überdachten terrasse des best besetzten restaurants eine portion spaghetti esse. Auf der vierten seite schließt das flaggen geschmückte ‚hotel de ville‘ das carré.

Aus Charleville-Mezieres und dem maastal heraus gelange ich über die für radler demotivierend dreispurig ausgebaute D 1, die zwei kilometer lang ansteigt und unangenehm zu fahren ist. Die D 3, auf die ich dann abbiege, ist sehr wellig und verlangt bei Warnecourt in einem 12%igen anstieg schon einiges, führt aber auch danach ständig auf und ab bis Launois s. Vence. Hier wechsele ich von der D 3 auf eine wirtschaftsweg ähnliche, schmale C 4, die zwar auch ständiges klettern verlangt, aber in wesentlich kürzeren und rhythmischer zu fahrenden anstiegen als diese endlos langen wogen der breiten D 3. Nach einer schlängelnden abfahrt von Viel St. Remy nach Novion-Porcion wird die landschaft immer offener. Kein wald mehr, sondern weideland mit schafen und ziegen. Dazwischen einige sumpfige gebiete.

Schließlich wird es vor Rethel so flach wie bei uns im Rheinland. Jetzt rolle ich ohne anstrengung wieder auf der D 3, die toll ausgebaut und mit neuer bitumendecke versehen 30 km/h zulässt. Aber ich höre ein ticken von der kette. Immer häufiger und lauter. Ich ahne schon, dass ein lasche irgendwo schleift. Heute morgen ist die kette nämlich beim runter schalten einmal kurz zwischen strebe und kettenrad eingeklemmt gewesen und ich hab sie mit einem ruck los getreten. Als ich anhalte, sehe ich, dass sich ein glied geöffnet hat. Das defekte teil lässt sich leicht heraus drehen. Dann setze ich das kettenschloss ein, das ich mit habe. Die kette läuft wieder perfekt. Jetzt muss ich nur daran denken, in der nächsten stadt ein neues schloss zu kaufen.

Bis Rethel habe ich 120 km geschafft. Es ist 16.00 uhr, aber es wird plötzlich dunkel. Ein gewitter kommt auf. Kein auge mehr für die schöne Nikolaus-kirche und die Aisne. Es blitzt schon und ich muss noch getränke kaufen. Die verkäuferin erklärt mir, dass parallel zur N 51, die hier als autostraße vierspurig ausgebaut ist, ein wirtschaftsweg auf westlicher seite verläuft, auf dem ich schnell und sehr bequem nach Reims radeln könnte. Allerdings müsste ich ab Pomacle der D 31 folgen, da der wirtschaftsweg dort ende. Immerhin sind das 26 in optimaler richtung verlaufende wirtschaftsweg-kilometer von insgesamt 39 kilometern bis Reims. Also entschließe ich mich erstmals angesichts des nahenden gewitters von meiner geplanten längeren route über D-straßen abzuweichen.

Der wirtschaftsweg ist bis Bazancourt wirklich toll: glatter asphalt und autofrei. Hier muss ich aber den mehrzweckstreifen nehmen, denn der WW ist zu ende. Außerdem kommt immer mehr wind auf, gegenwind natürlich. Jetzt gießt es wie aus kannen und ich muss runter auf die alte D 31. Unter einer brücke mache ich meine rückleuchte an. Der wind artet zum sturm aus. Es sind bestimmt noch acht kilometer bis Reims. Ich kann nur noch im stehen fahren, so stark fegt es. Auch das vordere diodenlicht hab ich jetzt angemacht, damit die autofahrer mich besser sehen. Denn jetzt fahre ich auf einer verkehrsreichen ausfallstraße durch vorgelagerte handels- und industriezonen, immer  richtung  zentrum. Bis zum Place Royal sind es bestimmt noch drei kilometer.

An der Kathedrale angekommen, hört es auf zu regnen. Der sturm legt sich. Mir ist saukalt. Es ist fast 18.00 uhr. Für ein foto der imposanten westfassade mit den drei portalen scheint ganz kurz die sonne. Die rose darüber misst 12 meter im durchmesser und die stumpfen türme ragen 82 meter hoch in den grauen himmel. Die portale sind überreich geschmückt mit skulpturen, von denen der ‚Sourire de Reims‘ genannte lächelnde engel besonders bekannt ist. Allerdings ist dies eine nachbildung, die nach den zerstörungen des 1. Weltkrieges notwendig war. Auch bei trübem wetter ist dieses meisterwerk der hochgotik wegen ihrer harmonischen gliederung und ihrer fülle von verzierungen[1] eine wucht. Übrigens: ähnlich wie im Aachener Dom wurden in Reims die meisten französischen könige gekrönt.

Das innere der kathedrale muss warten. Ich muss erst eine unterkunft finden. Das erste hotel ist zu. Der nordafrikaner aus der benachbarten dönerbude meint, ich müsse nur lange genug klingeln. Aber niemand öffnet. Das zweite hotel ist das ‚Hotel Sebastian‘, eine kaschemme. Für 168 im voraus zu zahlende francs kann ich mich in einem heruntergekommenen zimmer meiner nassen klamotten entledigen sowie in einer winzigen unansehlichen nasszelle warm duschen und die verdreckten radsachen auswaschen, nachdem vorher der ‚patron‘ mit mir mein rad in seinem büro-lager-rumpel-wäschekammer-allzweck-raum abgestellt hat.

Nach dusche, kleiderwäsche und dem telefonat mit Gabriele hab ich nur noch hunger. Als ich den zimmerschlüssel beim wirt abgebe, lädt er mich ein mit seinen anderen gästen, die alle nordafrikanischer herkunft sind, das EM-endspiel anzuschauen. Ich sage ihm zu, gehe aber erst ins zentrum richtung kathedrale. Dort finde ich ein elsässisches restaurant, in dem ich erst flammküchle mit lauch esse, dann einen warmen gemischten salat mit ziegenkäse und noch einen pfannkuchen mit birnen und schokoladensoße. Alles unglaublich lecker, aber teuer. Mit dem Kanterbräubier, das mir in einer literkanne serviert wird, zahle ich fast 200 francs. Aber ich fühle mich pudelwohl.

Die zweite halbzeit vom endspiel hat schon begonnen, als ich ins hotel zurückkomme. Die stimmung bei den franzosen ist mies, denn Italien führt. Mit erstaunen stelle ich fest, dass die nordafrikaner nicht nörgeln über das spiel der franzosen, sondern einsehen, dass die italiener clever verteidigen. Aber als dann der ausgleich fällt, ist die hölle los und nach dem golden goal küssen sie nicht nur sich und die tricolore, die sie mit haben, sondern auch den bildschirm. Sie sind völlig aus dem häuschen, rennen auf die straße, wo ein autokonvoi ein hupkonzert intoniert. Dann kommen die gäste wieder, bestellen neue getränke – auch für mich – trösten mich mit den erfolgen der deutschen fußballer in der vergangenheit, rennen dann wieder raus, schwenken trikots und fahnen, singen, tanzen, springen auf die vorbei rollenden autos.

Ich gehe schließlich in mein zimmer, telefoniere noch einmal aus dem mit löchriger, aber sauberer bettwäsche bezogenen weichen bett mit Gabriele und schlafe trotz des siegerlärms recht schnell ein.

[1] vgl. Baedecker, Frankreich, S. 557 f.