Fund-Orte

Rannu, 29. 07. 2014

Auch auf einer Radreise erweisen sich stark beworbene Attraktionen manchmal als Flop. Aber ich erlebe auch immer wieder das Radlerglück, völlig unerwartet an scheinbar langweiligen Orten angenehme Entdeckungen zu machen und mit besonderen Menschen zusammen zu kommen.

Das Fahrradmuseum in Saulkrasti war keine zufällige Entdeckung, sondern schon in einem Reiseführer vermerkt. Aber mit welcher Liebe und wie viel Sachverstand hier ein Radmechaniker schon 35 Jahre lang sammelt, restauriert und immer noch für „sein“ Museum lebt, das hat mich schon fasziniert.Welch tollen Stücke hier stehen: Ein „Fully“ aus Holz aus den 30er Jahren. Ein über eine Kardanwelle angetriebenes Rad aus den 20ern. Ein Rennrad mit aerodynamisch tiefem Bullhorn-Lenker aus den 60ern. All die kleinen Kennzeichen, die noch bis 1991 in Lettland  für Fahrräder vorgeschrieben waren. Oder die nostalgischen Reklameschilder aus Blech. Eine Stunde für zwei Räume war zu kurz.

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Das von einer Bierfirma gesponserte Baron von Münchhausen-Museum  war auf meiner Karte als Sehenswürdigkeit  vermerkt. Kinderbelustigung und Spielplatz rund um die Sagengestalt mehr nicht. Die wenigen Kilometer zur Ruine einer Kapelle, in der der Baron geheiratet  haben soll, hätte ich mir auch sparen können. Doch in unmittelbarer Nachbarschaft steht ein bezauberndes lutheranisches Kirchlein, unter dessen Mittelturm sich  Altarraum und  Kanzel befinden, während die Gläubigen sich in den beiden Seitenschiffen gegenüber sitzen. Der ganz spezielle Reiz der Kirche liegt auch darin, dass sie ganz in Weiß gehalten ist. Diese nüchterne Klarheit und die Fokussierung auf die Mitte, die Hinwendung zum wirklich Wichtigen.

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Ein zufällig an der Gedenkstätte vor der Kirche wartender junger Mann erzählt mir, dass das Gotteshaus im zweiten Weltkrieg völlig zerstört und ausgeraubt worden sei und in den 50er Jahren trotz aller Not und gegen die sowjetische Obrigkeit  von den Leuten aus Liepupe wieder aufgebaut wurde. Erst vor wenigen Jahren sei dann eine Gedenkstätte errichtet worden mit dem großen Stein für die Opfer des Krieges und des Widerstandes – weshalb die Jahreszahlen 41 – 49 in den Stein graviert wurden. Welchen Zusammenhang es gibt zwischen dem Ort und der „koninklijke nederlandsche heidemaatschappij“, die das Projekt unterstützt hat,  kann der Mann auch nicht erklären. Ohne ein kurzes Gebet und zwei Opferkerzen kann ich dieses ergreifende kleine Gotteshaus nicht verlassen.

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Am Ortseingang von Salacgriva lese ich einen Hinweis  auf „Koni“,  den  nostalgisch-urigen Urlaubsgarten von Janis. Er hat mich kommen sehen, öffnet deshalb die Gartenpforte, die ein wenig klemmt, und lädt mich ein im Garten im Zelt zu übernachten. Zimmer hätte er keins mehr. Davon  vermietet er mehrere in seinem hölzernen Gästehaus. Im Garten hat er ein Plumpsklo und eine Dusche gebaut für Campinggäste. Insgesamt sind heute sicherlich 10 Erwachsene zu Gast. Einig sitzen beim Bier zusammen, andere spielen Dart. Ein paar junge Frauen waschen und schneiden Rohkost. Zwei Männer kümmern sich ums Grill- oder Lagerfeuer. Unter einem Pavillon mit Zapfanlage decken Jugendlche den Tisch. vor. Ein Bottich mit der kalten Rote-Beete-Suppe ist schon fertig. Einige Kinder toben auf dem weitläufigen Rasen. Camping-Gast bin nur ich. Alle anderen scheinen sich zu kennen. Zur Begrüßung bekomme ich ein erstes frisch gezapftes Bier. Als  nächstes legt Janis mir ungefragt Strom bis zu meinem Zeltplatz neben einem Holztisch. Den Wifi-Code gibt er mir auf einem kleinen Zettel. Aber ich könne auch erst noch ein zweites Bier haben, meint er.

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Nach dem Duschen und Essen setzt Janis sich zu mir. Als ich ihm sage, dass ich die Atmosphäre auf seinen Platz besonders familiär und ‚homelike‘ finde, erzählt er von seiner Idee mit Gästen umzugehen, wie mit Freunden oder mit der Familie. Jeden so nehmen, wie er kommt. Ihm geben was er braucht, vor allem das Gefühl, dass er hier zu Hause ist und er selbst bleiben kann. Ihn wieder ziehen lassen, vielleicht als Freund. Er erklärt seine Gastfreundschaft mit vielen eigenen Erfahrungen in vielen Ländern der Erde: Als klassischer Posaunist im Rigaer Symphonieorchester verdient er nebenbei mehrere Winter Geld auf deutschen Weihnachtsmärkten mit der Posaune. Dann tourt er ein paar Jahre mit einer Ska-Musik-Band durchs Baltikum, reist wegen der Musik auch in die Karibik und durch ganz Europa. Gibt die klassische Musik auf. Schließlich wird er sesshaft in Riga, wo er auch jetzt noch eine Wohnung zusammen mit seiner Frau und den Schwiegereltern hat. Mit einem Freund vertreibt er ab 2005 Heizungssysteme mehrheitlich deutsche (Viesmann). Sie machen in 2007  einen Umsatz von 700.000 €. Die Krise von 2008 und eigene Fehler führen zum Bankrott in 2010.  Nach langen Diskussionen mit seiner Frau und Freunden steigt er aus, richtet auf diesem Grundstück das Gästehaus und den Campingplatz ein und lebt davon bescheiden aber glücklich.

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Manchmal macht er noch Musik mit Freunden. In der Mittsommernacht z. B. am Strand mit vielen Gästen, Freunden und Leuten aus dem Ort. Alle mit Fackeln, die Janis aus Stöcken, Birkenrinde und Paraffin  herstellt. In solchen Nächten werden Träume war, meint er. Sein Glück habe er aber gefunden in Koni.

In einem der ersten estnischen Orte hat ein ehemaliger Fischer in vielen Jahren Fundstücke aus dem Meer aber auch aus alten Gebäuden, aus Schulen und öffentlichen Einrichtungen, die geschlossen wurden, gesammelt und zu „Kunstwerken“ verarbeiet. Ein kauziger Kerl, der mich einfach nicht gehen lassen will, obwohl ich kein Wort verstehe von seinen Erzählungen.

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Viinistu ist auf meiner 1:275.000 Karte von Estland gar nicht vermerkt. Mein Navi kennt den Ort und weiß, dass es dort ein Hotel gibt.Heute ist es nämlich sehr schwül. Ab 14.00 Uhr verschwindet die Sonne hinter dunklen Wolken. Die Temperatur sinkt von 30 auf 21 Grad. Der Asphalt auf den Straßen ist nass. Es regnet nicht. Die Luftfeuchtigkeit ist so hoch. Mein Schweiß sammelt sich in Armbeugen und Bauchfalten zu gefühlten Bächen. Den Helm trage ich schon lange nicht mehr. Statt der Radschuhe fahre ich in den Tevas. Es gibt bestimmt ein Gewitter. Der Wind frischt tüchtig auf. Das bringt angenehme Kühlung aber auch ein wenig Sorge um die Nacht. Ein Mountainbiker, der mich heute Vormittag zum Jagala-Wasserfall begleitet hat, sprach von kurzen heftigen Unwettern.

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Nicht unbedingt Zeltwetter. Hotel wäre da besser. Aber hier im Lahemaa-Nationalpark auf der Halbinsel Pärispea gibt’s in den kleinen Dörfern  – eigentlich sind es nur weit verstreut liegende Holzhäuser und Scheunen –  nicht mal Lebensmittelläden, auch keine Kneipe. Nur im unansehnlichen Kleinstädtchen Loksa gibt’s eine Konsum, in dem ich Käsekuchen, Bananen, Joghurt und Wasser kaufe. Ein Hotel oder eine Pension gäbe es nicht, meint die Verkäuferin. Aber in Viinistu, sagt sie, da gibt‘s eins.

Der Ort liegt nicht auf meiner Route, zu nördlich zu sehr in der Spitze der Halbinsel. Auf die 10 km  kommt es jetzt aber auch nicht mehr an. Die Strände auf der Ostseite von Pärispea sind wieder voller Findlinge. Auf fast jedem hält eine Möwe nach Nahrung Ausschau oder schläft in der Sonne. Im Uferschilf tummeln sich Enten. Der Wind hat wieder nachgelassen. Mit jedem Kilometer wird’s wieder sonniger. Ob das Unwetter sich verzieht?

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Ganz seicht rolle ich von der Dorfstraße in den Hafen von Viinistu. Drei vier kleine Boote, ein älterer Fischkutter. Links am Hafen Restaurant und Bar mit Außenterrasse. Rechts am Hafen das „Kunsti-Museum“ in einer früheren Fischfabrik, die als Kolchose nach der Befreiung Estlands einging. Zwei Rundtürme – wie ich später lerne, die ehemaligen Gaskessel der Fischfabrik – fallen mir gleich auf, weil sie mit Lärchenschindeln verkleidet sind. Der Fabrik ist als Museum ist ein neuer gläserner Eingangsbereich angebaut worden. Darin arbeitet eine junge attraktive Restauratorin an einem Ölgemälde. Sie kann mir nicht helfen bei der Suche nach einem Schlafplatz, als ich ihr sage, dass mir das Hotel wahrscheinlich zu teuer sei. Aber die ältere resolute Kassiererin telefoniert für mich mit einem jungen Mann, der hier im Ort alles managt, was mit dem Museum und mit Tourismus zu tun hat. Reinerd kommt aus dem Hotel zu mir rüber geradelt. Super freundlich und hilfsbereit, zeigt er mir nicht nur eine kleine Rasenfläche hinter Kiefernsträuchern, auf der ich zelten kann, sondern auch die öffentlichen gepflegten Sanitäranlagen im Untergeschoss des Museums, die von Seglern und Schiffsleuten benutzt werden, die hier im Hafen anlegen. Dass ich von ihm „a smal discount“ auf ein kleines Einzelzimmer mit Frühstück auf der Landseite kriegen kann, erwähnt er aber auch. Ich will dennoch zelten. Die Sonne knallt wieder voll auf die kleine Hafenbucht. Doch noch bevor ich mein oranges Zelt aufstellen kann, umschwärmen mich 10 vielleicht sogar 15 kleine dunkle Wespen. Die habe ich anscheinend gestört. Eine sticht mich in die Kniekehle. Jetzt muss ich – ich möchte wohl auch mal wieder gerne –  im Hotel schlafen. Reinerd guckt kurz ein wenig verdutzt, als ich doch ein Zimmer haben möchte, lacht dann über die Wespenstory und meint, die seien „partner“. Ich bekomme sogar eins mit Meerblick.  Da das Museum jetzt schon zu sei, müsse ich es mir aber morgen früh noch unbedingt ansehen.

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600 moderne Werke anerkannter estnischer Künstler hat Jan Manitski, in Vinistuu aufgewachsen, mit seinen Eltern nach Finnland geflohen und in Schweden reich geworden, hier versammelt. Nach der Unabhängigkeit Estlands hat er erst vergeblich versucht, die Fischfabrik rentabel weiter zu führen. Dann aber die für das kleine Dorf (200 Einwohner) angenehmere Wahl mit dem Museum getroffen. Aber für mehr und bessere Arbeitsplätze muss sich der Tourismus noch weiter entwickeln.

Darum baute er Hotel, Restaurant, Terrassen und Hafen, richtete einen kleinen Bootsverkehr zu der vorgelagerten unbewohnten Insel Möhni ein. Der Mäzen hat viel investiert und auch schon viel geschaffen für sein Dorf.

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Seine Kunstsammlung ist so umfangreich, dass inzwischen alle Fabrikgebäude voll hängen. Erweiterungen sind schon vorgesehen. Die Öffnung nach außen, mit neuen großen Glasflächen, die Nutzung der Gaskessel, Holzterrassen und der halbrunden Freilicht-Bühne für Lesungen und Theatervorführungen zeigen, dass er noch viel vor hat mit Viinistu. Aber in Einklang mit dem Ort und der Natur des Nationalparks,  (siehe hierzu: http://www.lammas-art.de/blog/2012/12/04/ein-museum-fur-estnische-kunst-das-viinistu-kunstimuuseum/)

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Promigeil bin ich nicht und Jan Manitzki würde sich wohl auch nicht als prominent bezeichnen, zumindest benimmt er sich in Viinistu nicht so. Morgens im Hotel hat er sich kurz mit mir unterhalten, ohne dass ich wusste, wer er war.  Ihn interessierte das Übliche: woher ich komme, wieso per Fahrrad undwohin noch weiter. Ich war schon froh, dass er nichts über meinen Eindruck von seiner Sammlung wissen wollte.

 

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Morgenröte über Möhni und der Küste bei Viinistu