Gelunger Start mit gemischten Gefühlen

Samstag, 01. 07.: Tüddern – Han sur Lesse
1. etappe:  150 km    20,8 km/h

In der letzten nacht habe ich schlecht geschlafen. Meine frau, Gabriele, ist im zeltlager mit dem kindergarten. Sie kann nicht vor 10.00 uhr zu hause sein. So lange will ich warten. Ich bin aufgeregt, habe richtig bammel. Die taschenhaken halten doch nicht so fest, wie ich mir das wünschen würde. Die lenkertasche rutscht, weil der bügel nicht über den mtb-vorbau passt. Das bike-zelt scheint mir auch keinen perfekten stand zu haben. Überhaupt geht mir noch vieles durch den kopf. Aber ich glaube, am meisten beunruhigt mich der gedanke, so lange alleine und nicht bei Gabriele und den kindern zu sein. Dorothée, meine nachbarin, fragt schon, warum ich noch nicht weg bin.

Pünktlich um 10.00 uhr kommt Gabriele. Als ich ihr leise gestehe, dass ich schiss habe, sagt sie nur: „Das hast du dir selber ausgesucht. Da musst du jetzt durch.“ Um 10.15 uhr fahre ich schließlich los, nachdem Dorothée noch fotos gemacht hat. Ich hab einen kloß im hals und zittere vor aufregung und angst.

Im moment ist es trocken, aber das wetter scheint wechselhaft zu bleiben. Auf jeden fall wird es spät werden, wenn ich heute bis Han sur Lesse kommen will. Aber gleich am ersten tag das vorgenommene pensum nicht zu schaffen, wäre auch kein guter start.

Bei meinem radfreund Herbert klingle ich dennoch. Er und seine frau  schütteln den kopf, als sie das schwer bepackte rad sehen. Sie glaubten, ich sei schon lange unterwegs und hatten schon besorgt den wetterbericht verfolgt. Jetzt sind sie froh, dass sie mich verabschieden können. Sie spüren, dass ich sehr angespannt los fahre. Deshalb drücken sie mich noch mal kräftig, wünschen mir alles gute und versprechen mit mir zu telefonieren.

Endlich bin ich unterwegs. Gestern habe ich auf dem weg nach Aachen schon gespürt, dass das schwere rad überraschend gut rollt. Ohne anstrengung kann ich in ebenem gelände 25 km/h erreichen. Bis Banneux kenne ich die strecke, brauche nicht auf die beschilderung zu achten und grüble noch lange, ob der entschluss so weit zu radeln und so lange von zu hause weg zu sein, nicht doch zu weit geht, zu egoistisch ist, zu wenig rücksicht nimmt auf Gabriele, die kinder oder meine mutter.

Zum glück treffe ich schon in Amby auf dem ‚fietspad‘ den ersten radler, der an der muschel erkennt, dass ich nach Compostela unterwegs bin. Denn in dem gespräch komme ich auf ganz andere gedanken. Der freundliche rennradler ist ’schoolbegleider‘ aus Maastricht und fährt mit mir bis Mesch. Vom camino weiß er einiges, weil ein freund von ihm ihn auch geradelt ist. Er selbst ist aus der kirche ausgetreten und hat für pilgerfahrten nichts übrig, obwohl er regelmäßig auch längere ‚fiets‘-touren macht.

In Mesch hängt die lenkertasche schon so tief, dass ich die karte nicht mehr ohne mühe lesen kann. In Warsage kaufe ich mir vier kabelbinder bei einem hilfsbereiten elektriker und binde damit die lenkertasche am aerobügel hoch. Jetzt kann ich sie nicht mehr abnehmen, ohne die binder zu zerschneiden. Der elektriker will noch viel wissen, vor allem warum ich alleine fahre. In französisch ist das gar nicht so leicht zu erklären. Ich sage: „Rouler seul, c’est plus détendant“, obwohl ich selbst davon noch nicht überzeugt bin und zumindest heute morgen noch nicht entspannt rad fahre.

Vor Micheroux geht der erste heftige schauer nieder. Ich stelle mich kurz unter. Im nächsten dorf treffe ich auf die ausgeschilderte „Route Charlemagne“, die touristen an historische orte aus dem leben Karls des Großen führt. Sie könnte eigentlich bis Pamplona weiterführen,  denn so weit ist Karl gekommen auf seinem feldzug gegen Spanien. Aber es wäre kein passender name für meine tour. Ich will niemanden bekehren und höchstens meinen eigenen schweinehund bekämpfen.

Im anstieg von Nessonvaux nach Banneux kommt der zweite schauer runter. Aber im berg absteigen? Diesen anstieg kenne ich gut. Er fällt mir trotz des regens gar nicht schwer. Ich merke, dass ich auch mit dem bepackten rad recht gut klettern kann. Ich fahre eine übersetzung von 36/19, habe also noch einige kleinere gänge in reserve. Werde ich ja wohl auch brauchen in den Pyrenäen.

In Banneux in der infostelle gibt mir eine nette dame zum ‚tampon‘ in meinen pilgerpass gleich einen artikel mit  gedanken zum pilgern:

Du gehst nicht allein.

Immer wieder aufbrechen und den Weg suchen,

wenn auch der Fuß an Steine stößt,

das Gewicht auf dem Rücken und die Last der Jahre dich drücken,

wenn die Sonne dich mit glühenden Lanzen sticht

und der Regen dich durchnässt.

Müde sein und wieder gestärkt werden.

Straucheln, fallen und wieder aufstehen.

Und vielleicht gesellt sich ein Weggefährte

zu dir auf dem langen Weg.

Neue Begegnungen warten auf dich.

Du fühlst dich getragen von guten Gesprächen,

Worten, Gesten, Blicken,

von warmer menschlicher Berührung.

Und vielleicht leuchtet mitten in der Mühsal des Alltags

ein heller Stern auf, dessen Ursprung von weit her kommt.

Du spürst: Du gehst nicht allein. [1]      

Noch in der kapelle ‚bete‘ ich eine ‚radversion‘ dazu und schreibe sie anschließend in einem café bei einem großen stück reisfladen und einer tasse kaffee auf:

Du fährst nicht allein.

Immer wieder antreten, immer wieder raus aus dem sattel.

Immer wieder aufbrechen, immer wieder suchen

den rechten weg, das nächste ziel, eine neue richtung.

Auch wenn autos nah an dir vorbei rasen,

lkw dich mitziehen in ihrem sog,

ein anstieg dem anderen folgt,

schlaglöcher und kopsteinpflaster bis in den nacken schmerzen

und schon wieder einem reifen die luft aus geht.

Auch wenn die sonne die kopfhaut

unter deinem helm zum schmoren bringt,

der regen dir ins gesicht peischt

und kalter wind dir die letzte wärme aus dem trikot fegt.

Weiter treten, weiter fahren, weiter.

Vielleicht gesellt sich ein radler zu dir auf dem langen weg,

gibt dir windschatten, muntert dich auf am berg

oder schubst dich kurz an einer besonders steilen stelle.

Neue begegnungen warten auf dich.

Du fühlst dich getragen von solchen gesten, von worten,

einem aufmunternden blick, einem guten gespräch,

von warmer menschlicher berührung.

Du spürst du fährst nicht allein.

Es ist fast 14.00 Uhr, als ich weiter fahre nach Remouchamps. Ich fotografiere die autobahnbrücke über die Ambieve. Ab jetzt kenne ich die route nicht mehr. Ich muss mehr auf die beschilderung achten. Meine kleinen routenkärtchen mit den straßennummern sind zusammen mit den michelin-karten nützlich und sehr praktisch.

Ab Aywaille wird das wetter besser, aber ich bekomme gegenwind. Die N 86 ist viel ruhiger, als ich befürchtet habe. In Awan gefällt mir das ensemble der kirche St. Pierre mit dem dahinter versteckten schloss und den an der straße liegenden hofgebäuden. Hotton ist ein ausgewiesenes  „village fleurie“, was der blumenschmuck rund um die kirche am ufer der Ourthe deutlich beweist.

Inzwischen bin ich in der wallonischen provinz Luxembourg. Hier häufen sich viele seltsame kurze ortsnamen wie Ny, Sy, My, Ozo oder On. In Bomal fülle ich die flaschen auf mit eistee und wassser (reicht bis abends). In der gegend um Durbuy, Hotton, Barvaux und Marche en Femme ist es sonnig. Viele wanderer sind hier unterwegs. Der bislang schönste streckenabschnitt folgt bei Chateau Fort de Logne im tal der Ourthe. Viele natursteinhäuser und schlösschen, eine tolle hügelige weidenlandschaft mit mehreren ebenfalls als ‚villages fleuries‘ ausgeschilderten dörfchen.

Am ortseingang von Rochefort wird eine neue radrennbahn gebaut. Der ort setzt anscheinend in seinem fremdenverkehrskonzept auf den rennradtourismus. In diesem jahr hat Axel Merckx hier die belgische straßenmeisterschaft der profis gewonnen. Der kurs wird – wenn ich mir die landschaft so begucke – anspruchsvoll, aber nicht zu schwer gewesen sein. Die hügel sind alle sanft geschwungen. Selbst wenn man seitlich aus dem tal heraus will, sind die anstiege nicht steiler als 10%. Fünf nennenswerte anstiege habe ich am ersten tag zu bewältigen: Soumagne/Olne, Nessonvaux/Banneux, Aywaille/Awan, Barvaux/Hotton, Marche/Marloie.

Nach 155 km komme ich in Han sur Lesse an, das bekannt ist als wildwasser-revier für kanuten, aber auch für touristen kanu- und schlauchboot-touren anbietet. Ganz stolz bin ich auf meine routenberechnung: nur fünf km differenz. Zuerst suche ich – wie es sich für einen pilger gehört – ein pfarramt oder ähnliches. Aber es ist nichts zu finden. Das office de tourisme ist auch zu. Es ist ja auch schon 18.45 uhr. Also werde ich die erste nacht nicht in einer pilgerhergberge verbringen können.

Im Hotel Central bekomme ich für 1750 bfr ein ordentliches, aber altes zimmer mit dusche, morgen früh ein hoffentlich deftiges frühstück und heute abend ein ausgiebiges und leckeres essen: grüne (kerbel?)-suppe, schinken mit melonen als vorspeise, vier lammkoteletts mit pommes, erdbeeren, eis und sahne als nachspeise. Dazu trinke ich zwei halbe liter bier. Bei solchem essen wird das pilgern nicht zur buße.

Noch vor dem essen rufe ich Gabriele an. Sie spürt, dass ich viel zuversichtlicher bin als heute morgen. Keine angst mehr die geplanten tagespensi nicht zu schaffen, kaum noch gedanken über sinn oder unsinn einer solchen wallfahrt und schon recht keine zweifel mehr am radsportlichen erlebniswert meiner tour.

Der schuppen, den die junge bedienung mir anbietet als unterstellplatz für mein rad, ist eine echte katastrophe und natürlich nicht abzuschließen, aber ein foto wert. Wohl oder übel muss ich dort mein rad abstellen und das ganze gepäck ins zimmer schleppen.

Beim essen geht noch ein kräftiger schauer runter, bei dem dicke hagelkörner auf das kunststoffdach der terrasse prasseln. Nach dem gewitter gehe ich durch den ort, der jetzt schon frei von touristen und fast ganz eingeschlafen ist. Vor der pfarrkirche finde ich drei „nagelbäume“ und ein hinweisschild auf die damit verbundene legende: Im 17. jahrhundert gab es in vielen wallonischen orten solche nagelbäume, die immer in der nähe einer kirche oder eines klosters standen. Wenn in der familie jemand erkrankt war – insbesondere an den zähnen – berührte man mit einem nagel die erkrankte körperpartie und schlug dann den nagel in einen der bäume ein. Mit dem nagel, so glaubten die menschen, wurden auch die krankheiten eingeschlagen.

Zurück im hotel meint der wirt, ich sei in der nacht alleine im hotel und morgen sei sonntag. Dann brächte ein junger mann zwar brötchen und würde mir auch kaffee aufgießen. Aber ich müsse schon warten bis 8.00 uhr. Nun gut! Heute bin ich noch viel später los gefahren. Als ich ihn frage, wie weit es nach Reims sei, versteht er erst den ortsnamen nicht. Besser gesagt, er tut so und fragt mich: „Reims? Sie sagten: Reims?“ Er zieht die mundwinkel respektvoll runter, überlegt kurz und meint dann 180 km wären es schon und diese kilometer seien „tres valloné“. Dabei nennt er mir einige größere städte, die ich passieren müsste. Ich merke, dass er eine nationalstraßen-strecke vorschlägt. Als ich ihm sage, ich würde über Gedinne und Louette St. Pierre fahren, schüttelt er den kopf und muss zugeben, dass er diese orte gar nicht kennt, glaubt aber, dass eine nebenstrecke noch viel hügeliger und kaum kürzer sein könnte. Dennoch bin ich mir sicher, dass ich morgen höchstens 160 km fahren werde bis Reims.

Gegen 21.00 uhr gehe ich zu bett, muss aber noch mal runter ein wasser holen, denn ich habe noch durst. Wenn ich ehrlich bin, gehe ich eigentlich runter, um nach meinem rad zu sehen. Ich räume schließlich den schuppen so weit um, dass ich das rad durchschieben kann und die tür wenigstens angelehnt schließen kann, damit das rad von der straße aus nicht mehr zu sehen ist. Zuletzt lege ich es mit beiden schlössern so an einem alten rasenmäher und einem holzdachpfosten fest, dass ich danach beruhigt in dem weichen bett einschlafen kann.

Das fängt ja gut an: hotelbett statt pilgerpritsche

[1] vgl. B. Cratzius, 2000, Seitenzahl unbekannt