Geschafft

St. Petersburg, 01. 08. 2014

Stolz will ich das Ortschild von St. Petersburg fotografieren, möglichst noch mit mir aber zumindest mit dem Fahrrad. Ob‘s an der kyrillischen Schreibweise liegt oder am Autobahn-Verkehr auf der E 20, ich sehe kein Schild. Seit einer guten dreiviertel Stunde bin ich sowieso total überfordert: Obwohl auf meinem Garmin nur noch der Track des EuroVelo 10 als einsame rote Linie zu sehen ist, kann ich mich daran noch einigermaßen orientieren. Aber ich muss in die Innenstadt, weg von der Radroute. Italjanskaja 12 a lautet die Adresse meines Hostels. Auf dem Stadtplan habe ich die Straße auch gefunden- in unserer Schrift. Aber ich weiß überhaupt nicht, wo ich bin, seitdem ich die E 20 verlassen habe. Die Straßennamen kann ich nur entziffern, wenn ich anhalte und Buchstabe für Buchstabe überlege. Ich kenne sie einfach noch nicht gut genug. So müssen Analphabeten sich fühlen.

Da der Obvodnoko-Kanal in West-Ost-Richtung verläuft, muss ich irgendwann darauf treffen. Daran entlang ostwärts werde ich dann auf eine der breiten, „prospekt“ genannten Straßen stoßen. Am liebsten wäre mir einer der beiden Wasserläufe, die weiter nördlich durch laufen bis zur Fontanka, einem Fluss der durch die Innenstadt fließt. An dem entlang käme ich ganz einfach in den gesuchten Teil der Innenstadt. Vom google maps-Routenplaner habe ich mir den kompletten Weg abgeschrieben, weil ich keinen Drucker zur Verfügung hatte. Aber eine Straße, eine Kreuzung von diesem Weg muss ich jetzt auch finden.

Die Straße, auf der ich mich immer nördlich halte – die Himmelsrichtung zeigt mein Navi ja noch an –  hat Leitplanken aber kein Namensschild. Hin und wieder könnte ich abbiegen. Aber dann? Ich bin wieder zu ungeduldig. Irgendwann wird der Kanal schon kommen. Eine Brücke führt mich über Bahngleise. Von da aus sehe ich einen Bahnhof. St. Petersburg hat, so viel ich weiß, vier Bahnhöfe. Hier im Südwesten der Stadt kann das nur der „Baltische Bahnhof“ sein. Der ist noch nicht auf meinem Stadtplan. Ich biege trotzdem dorthin ab. Passanten bestätigen, es ist der Baltisch Bahnhof. Und ich kann hier auch eine Alternative zum Ortsschild fotografieren. Zum „Moskovsky Prospekt“ erklärt ein junger Mann mir den Weg. Der ist ganz nah. Den hab ich schon auf meinem Zettel und auf dem Stadtplan. Es ist gar nicht mehr weit bis zum Kanal. Jetzt weiß ich sicher, wo ich bin.

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Alles geht gut. Ich komme an die Fontanka und folge ihr nordostwärts. Die Straßen werden enger und voller. Ich muss auf den Bürgersteig. Und oft wieder runter. Über die hohen Bordsteine. Meine armen Speichen. Die Anitschkow-Brücke mit den vier Pferde-Statuen ist nicht zu übersehen. Auf dem Newski-Prospekt, der Prachtstraße St- Petersburgs, überquere ich die Fontanka, biege gleich wieder rechts ein und in die erste links ein: Italjanskaja. Wenn ich weiß, was auf den Schildern steht, kann ich sie flüssig lesen.

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Die 12 a hat ein schmiedeeisernes schwergängiges Tor. Auf der linken Seite die Loge der Concierge, die mich nur mustert, nicht begrüßt. Auf der rechten Seite im Innenhof eine kleine schmiedeeiserne Bank auf der anscheinend geraucht wird. Die beiden Männer nicken. 20 Meter weiter steht der Hinweis: Guest House. Ich biege in eine Art offene dunkle Garage ein. Hier wird noch gebaut. Zementsäcke, Rigipsplatten, Bauschutt und eine weitere braune Gartenbank mit großem Aschenbecher davor. Hinten rechts eine offen stehende zweiflügelige Metalltür. An der Wand daneben das Schild des Hostels. In den ersten Stock muss ich über eine breite geflieste Treppe. Mein Rad hab ich unten abgeschlossen. Freundlich empfängt mich eine junge Russin, die kein Wort Englisch spricht, sich aber mit dem Computer gut auskennt. Sie findet meine Buchung rasch. Alles was ich wissen muss, schreibt sie in den Englisch-Translater. Ich darf hinter ihren Tresen und gleich mit lesen. Mein Zimmer kann ich mit Visa bezahlen. Da bin ich schon froh. Denn ich habe nur noch etwa 2000 Rubel (ca. 40 €). Die 150 Euro in bar möchte ich nur notfalls umtauschen lassen.

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Mein Zimmer ist klein. Durchs Fenster schaue ich auf einen kleinen Park mit der Bronze-Statue eines sitzenden Poeten, dessen Name ich abends noch versuche zu lesen, aber nicht kenne. Saubere, gut gewartete Sanitärräume, eine neue große Küche mit allem, was Backpacker so brauchen, vor allem einem großen Kühlschrank und einer Waschmaschine.

Sogar Waschpulver ist da.  Zwei Wäscheständer stehen im breiten Flur. Alles ist frei zugänglich. Auch Wifi. Im Gemeinschaftsraum vor der Küche stehen Billy-Regale mit Büchern, Musikanlage und CD . Ein Flachbildschirm hängt an der Wand. In der Vitrine daneben – auch von Ikea – Souvenirs, die man kaufen kann. Mir gefällt’s.

Nach dem Duschen und dem ersten Eindruck möchte ich gleich um zwei Nächte verlängern. Das geht, schreibt sie mir. Aber natürlich nicht zu dem günstigen online-Preis der ersten Nacht. Am Wochenende seien die Zimmer immer teurer. Statt 30 für die erste Nacht muss ich für jede weitere 40 zahlen, bekomme dafür ein größeres Zimmer. Frühstück macht in der Küche sowieso jeder selbst.

Hab ich ein Glück! Ein wirklich zentral gelegenes Hostel mit allem, was ich brauche. Mein Rad kann ich abends auf dem oberen Treppenabsatz direkt vor der Hosteltür an einem Abflussrohr festlegen. Übrigens spricht die zweite auch sehr hilfsbereite Frau am Empfang gut Englisch. Sie erzählt mir, dass die Rezeption rundum die Uhr besetzt sei. Die beiden Frauen arbeiten abwechselnd im 24 Stunden-Schichtdienst. Nachts schlafen sie auf der Couch hinter dem Tresen der Rezeption.

Die Waschmaschine drücke ich ganz schön voll. Seit Nida habe ich nur noch Radhosen „auf der Hand“ gewaschen. Morgen werde ich in sauberen Klamotten, die Eremitage besichtigen. Heute Abend ziehe ich nochmal eine Shorts und ein gelbes Hemd an, die ich nur einen Vormittag in Tallinn getragen und dann in die Radtasche gestopft  habe. Hier gibt’s sogar ein Bügelbrett und ein Eisen. So kann ich doch wieder unter Menschen gehen.

Bin ich froh, dass alles so reibungslos geklappt hat! Gegen halb acht gehe ich los. Zuerst ein „Zielfoto“ machen. Selfie dazu bin ich zu blöd. Ein junger Italiener knipst mich. Wegen der tiefstehenden Sonne, wird’s nicht gut. Trotzdem appe ich es meinen Mädchen.

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Jetzt Geld ziehen. Im Reiseführer und im Internet, überall lese ich, Geld abheben an Automaten wäre kein Problem in St. Petersburg. Aber mit meiner spießig normalen Sparkassen-Maestro-Card funktioniert es nicht. Weder bei der ersten, noch bei der zweiten Bank, nicht am Bancomat bei der Eremitage, Und es wird auch morgen nicht klappen,nicht mal mit freundlicher Unterstützung von zwei Bankangestellten. Und übermorgen nicht am  Katharinen-Palast in Puschkin und auch am letzten Tag am Fährhafen nicht. Ich probiere es immer wieder und überall.  Als ich einer Angestellten in einer Bank erzähle, in der Kaliningrader Filiale der gleichen Bank hätte ich problemlos abheben können, sagt sie lächelnd: „No problems in Kaliningrad, but problems in St.Petersburg,“ und lässt mich einfach stehen.

Die Automaten zeigen nicht an, dass mit meiner Karte etwas nicht stimmt. ‚Bedauerlicher Weise kann zur Zeit dieser Vorgang nicht ausgeführt werden‘ oder so ähnlich lautet der englische Text. Jetzt hab ich am ersten Abend schon ein wenig Bauchschmerzen. Nicht nur vor Hunger. Da hat alles so toll geklappt und dann kein Geld. Das macht mir Sorgen. Nicht nur, aber gerade in St. Petersburg. Nach dem leckeren Abendessen in einem georgischen Lokal, zwei Bieren und dem Einkauf für das Frühstück hab ich keine Rubel mehr. Nur noch 150 €, die ich morgen früh umtauschen werde. Damit muss ich dann  drei Tage in St. Petersburg auskommen. Da kann ich’s ja krachen lassen.