Gut gegangen

Fähre Finlandia, 11. 08. 2014

Montags morgens um 9.00 Uhr wirkt Helsinki verschlafen. In wenigen Minuten finde ich vom Hafen ins Zentrum. Das Navi funktioniert wieder und am ersten Geldautomaten auch meine EC-Karte. Ein gutes Gefühl, wieder über Geld zu verfügen.

Von Besichtigungen, Kunst und Kultur hab ich erst einmal genug. Den Bildern und Erlebnissen aus Sankt Petersburg will ich jetzt nicht einfach Helsinki überstülpen. Die Stadt muss warten. Raus aus Helsinki will ich erst, auf eine der Inseln zelten, an einem Strand liegen, schwimmen, faulenzen.

Der Campingplatz Rastila, 16 km nordöstlich auf der Halbinsel Vousaari scheint ideal. Neben den vielen Wohnmobilstellplätzen auf Asphalt bietet der Platz für Zelte eine lang gestreckte Wiese mit Büschen und Bäumen, Sitzbänken und Holzbrücken über den Graben, der das Gelände durchzieht, jetzt im Sommer aber zugewachsen ist mit blühenden Blumen und Schilf.

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Der Platz grenzt an  einen kleinen öffentlichen Sandstrand, der heute wegen der Hitze ziemlich voll ist und keinen Schatten bietet. Viel ruhiger, aber steiniger, dafür schattig mit Kiefern und Birken ist der 1,5 km entfernte Strand an der Südseite der Halbinsel. Ein Kajak-Verleih und die Gäste eines älteren Hotels nutzen die Nachbar-Strandzugänge.

Hier liege und lese ich den ganzen Dienstag, schwimme in der schlafenden Ostsee und schreibe im löchrigen Schatten der Birken an meinem Tagebuch. Nur 500 m weiter finde ich an einer etwas breiteren, gut besuchten sandigen Bucht ein schnuckeliges Ausflugslokal in einer alten Holzvilla mit Erkern und Holzterrasse, in dem täglich von 12.00 bis 18.00 Uhr ein Lunch-Büffet angeboten wird. Für 9 € incl. Kaffee und Wasser kann ich hier so viel essen, wie ich mag. Das gute Essen zu dem günstigen Preis aber auch die entspannte Atmosphäre des Restaurants ziehen viele Gäste an. Unter den großen Sonnenschirmen sitze ich gerne, hol mir noch einen zweiten Salat oder noch etwas Pfannkuchen, trinke noch einem Kaffee oder ein dunkles Bier, schaue dem Treiben am Strand zu oder einach nur auf das ruhige Meer.

Speisen und Getränke sind im allgemeinen recht teuer in Helsinki. Die Bierpreise sind unerhört: Im Supermarkt kostet eine 0,33 l Büchse Heineken 1,59 €. Ein 0,5 l Glas finnisches Bier in dem Ausflugslokal 5,50 €. Für diese Preise trinke ich zu hastig. Auch die Camping-Gebühr ist mit 19 € für mich und mein Zwei-Mann-Zelt hoch. Dafür erfüllt der Platz alle heutigen Ansprüche: zwei mit key-card gesicherte Sanitärhäuser sind immer sauber. Zwei Küchen mit Kochplatten und Wasserkochern, Waschmachinen, Trockner ebenfalls. Wifi im Bereich der Rezeption ist kostenlos. Einen  Fahhradverleih gibt’s auch. Allerdings wird es von Tag zu Tag nicht nur in den langen Wohnmobil-Reihen sondern auch auf dem Zeltplatz immer voller.

Helsinki ist an diesem zweiten August-Wochenende anscheinend der Treff an der Ostsee. Das FLOW-Musik-Festival zieht zigtausende an, der FC Barcelona mit Messi und Neymar spielt im Olympiastadion und eine internationale „Dog Show“ findet in der Messe statt. Inzwischen bellen und jaulen auf dem Rastila-Camping-Platz an und in jedem zweiten Wohnwagen besonders gut gepflegte Hunde aller Rassen. Dass manche Camper mit vier und fünf Hunden der gleichen Rasse über den Platz spazieren oder sie in „Laufställen“ vor ihren sechs, sieben, sogar acht Meter langen Mobilhomes bespaßen, mag ja noch angehen. Aber manche der meist kleineren Rassetiere liegen stundenlang in übereinander gestapelten Transportboxen. Für die Tiere bei diesen Temperaturen eine Zumutung, aber auch für Nicht-Hundehalter. Weil ich die vielen Hunde, das ständige Geheule nicht ertrage, fahre ich gleich nach dem Frühstück den ganzen Tag über an ‚meinem‘ Strand.

In die Stadt fahre ich erst, als Elvira mich bittet, ein Hotel für das Wochenende zu suchen. Monatelang wollte sie von meiner Baltic-Tour gar nichts wissen. Jetzt kommt sie spontan nach Helsinki. Am Donnerstag um 15.00 Uhr. Bis Montag Nachmittag bleibt sie. Hier habe ich Zeit für sie und kann mit ihr hoffentlich ein paar entspannte Tage verbringen. Ich freue mich. Weil wir seit über einem halben Jahr nicht mehr zusammen wohnen, mache ich mir gleichzeitig Sorgen, ob das gut geht mit uns beiden.

Hotelzimmer sind rar in Helsinki – zumindest an diesem August-Wochenende. Für die erste Nacht kann ich auf dem Campingplatz eine Hütte ohne fließendes Wasser mit 4 Betten, Kühlschrank und Mikrowelle reservieren. Für ‚lächerliche‘ 79,00 €. Danach sind auch alle Hütten belegt. 14 Hotels klappere ich am Mittwochmorgen in der Innenstadt ab. Das günstigste Doppelzimmer, das bis Montag frei ist, kostet 198,00 € pro Nacht. Ich frage auch in dem schön gelegenen Hotel ‚Rantapuisto“ an „meinem“ Strand nach. Aber es ist ausgebucht, sagt man mir an der Rezeption. Ich weiß nicht mehr, wo ich noch fragen soll.

Elvira sucht zuhause im Internet. Ohne dass ich ihr etwas vom ‚Rantapuisto‘ geschrieben habe, mailt sie mir abends, dass sie in dem Hotel für 120 € pro Nacht ein Doppelzimmer mit Frühstück von Freitag bis Montag buchen konnte. Das kann doch kein Zufall sein. Ich kann es kaum glauben und frage Donnerstagmorgen auf meinem Weg zum Strand gleich nach. Ja, es stimmt, Frau Tholen hat hier ein Zimmer reserviert für diesen Zeitraum. Nur 1,5 km von meinem Zeltplatz, an einem der schönsten und ruhigsten Strände Helsinkis in einem zwar etwas älteren und von außen nicht mehr ganz frischen Hotelbau, der aber noch ausstrahlt, welch tolles Design hier in den 60er Jahren mit viel Holz und viel Glas in offener Raumgestaltung verwirklicht wurde. Dass ein neuer Außenanstrich überfällig und die Waschbeton-Plattierung völlig vermoost ist, schmälert meine Vorfreude über den Aufenthalt im „Rantapuisto“ nicht.

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Helsinkis Flughafen liegt etwa 20 km nördlich des Zentrums.  Voller Erwartungen und guter Dinge umarmen wir uns. Eineinhalb Stunden später sitzen wir zufrieden auf der kleinen Terrasse im Sonnenschein vor unserer Hütte bei einem Glas Wasser. Wir ahnen schon, wie schön diese Tage für uns werden können.

Den ganzen Freitag bleiben wir auf Vousaari. Zuerst frühstücken wir ausgiebig an unserer Hütte in Camper-Manier: trinken Nescafé aus meinem Metallbecher, löffeln Obstsalat und Bircher-Müsli aus meinem Blechnapf, schmieren finnische dunkle flache Brötchen mit Käse und Marmelade auf meiner umgedrehten stiellosen Pfanne. Selbst die uns umschwirrenden Wespen und die unruhigen Hunde können unsere Stimmung nicht trüben.

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Um 10 Uhr ziehen wir schon ins Hotel um. Zu Fuß. Das Zimmer ist voll in Ordnung. Die originale 60er-Jahre-Ausstattung der Hotelhalle, die Holzdecken in den langen Korridoren, das nordisch nüchterne Mobiliar der Säle und Speiseräume entsprechen dem, was ‚Finn-Design‘ in der Inneneinrichtung auszeichnet: helles, manchmal rötliches Holz, in eleganten klaren Linien, mit weichen, groben Stoffen und Leder kombiniert. Handwerklich sind die Verkleidungen, Türen, Vitrinen und Regale erstklassig verarbeitet. Sie sehen nicht nur toll aus, sie funktionieren auch noch einwandfrei nach 50 Jahren. Aparte ovalen Beistelltische, hochrädrige Büffetwagen, hölzerne Stehleuchten mit Glasschirmen oder mit schwarzen Leinen-Schirmen und geometrisch-gemusterte Wollteppiche zeigen den Blick fürs Ganze und die Liebe zum Detail. Alles passt zueinander in diesem lang gestreckten flachen offenen Hotelbau. Der geschwungene, hölzerne und doch transparent-leichte Paravent vor dem Gäste-PC toppt das Ganze.

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Danach liegen wir bis abends vor dem direkt am Strand liegenden Sauna-Haus des Hotels in der Sonne. Ab und an kommen einzelne Hotelgäste vorbei, hüpfen kurz vom Steg ins Wasser und ziehen sich wieder in den Hotelpark zurück. Wir können uns nicht satt sehen an der stark gegliederten Küsten-Silhouette mit den vorgelagerten kleinen, nur im Sommer bewohnten Inseln, den roten und weißen Hütten über den glatten glitzernden Felsen, den weißen Segel- und bunten Paddelbooten im Ufer-Schilf oder an Bootsstegen mit weißen Geländern. Immer wieder staunt Elfi: „Paradiesisch!“

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Samstag ist Sightseeing angesagt. Mit der Metro ins Zentrum. Weil die 25 € für eine Busrundfahrt mir zu viel sind, klappern wir die von uns ausgewählten Sehenswürdigkeiten zu Fuß ab. Zwischendurch kehren wir in ein besonders nettes Café in einem Hinterhof ein. Den ein oder anderen Laden mit besonderen Klamotten besuchen wir auch. 400 € für einen Schal, 1000 € für ein Kleid, das kann man mir nicht erklären. Im summer-sale gibt’s bis zu 70% Nachlass. Obwohl ihr ein brauner Sommermantel und ein grünes Kleid besonders gut gefallen, bleibt Elfi bei ihrer Devise: Nur gucken – nix kaufen. Mittags essen wir „Lappland food“ auf dem Kauppatori Markt in einem Zelt. Eine kleine Portion Risotto aus Gerste mit Gemüse und Sardellen, sowie eine Portion Bratkortoffeln mit Rentier-Wurst aus Papptellern mit einem Bier und einer Cola für 23 €. Ich verstehe nicht, wieso bei den Preisen auch  Politessen und einige Straßenreiniger hier ihre Mittagspausen einlegen.

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Der imposant über der Altstadt thronende weiße Dom ist nachmittags leider zu. In der nicht weniger eindrucksvollen Orthodoxen-Kathedrale erleben wir einen dramatisch anmutenden Teil einer Beerdigung. Anscheinend Angehörige oder Freunde verabschieden sich mit Küssen und vielen Kreuzzeichen von der vor dem Altar im offenen Sarg aufgebahrten Leiche. Dazu singt ein gemischter Chor melancholisch klagende Lieder. Über die an Paris erinnernden Esplanaden und einem viel besuchten Teil der Fußgängerzone gelangen wir zum Hauptbahnhof  und dann zum Parlamentsgebäude. Beide in dem strengen finnischen Neo-Klassizismus sind mir schon wegen des grauen Granits zu trist.

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Die moderne Holz-Architektur der Kamppi-Kapelle, ein geschlossenes Oval in goldgelber Lärche, finde ich hingegen umwerfend. Auch von innen. Begeistert sind wir auch von der mitten in der Stadt in einen Felsen gehauenen Kirche. Schade nur, dass die gleichzeitig mit uns die Felsenkirche besichtigenden Asiaten in ihrer Lautstärke so wenig Rücksicht zeigen.

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Die riesige aus weißem Marmor gebaute Finlandia-Halle des berühmten Architekten Avor Aalto wirkt nur auf Grund ihrer Ausmaße. Der nüchterne hohe lange Bau strahlt trotz seiner exponierten Lage am Ufer des Tölöö-Sees zu wenig aus von der im skandinavischen Design so präsenten Eleganz des einfachen, aber hochwertigen Materials und dessen handwerklich gekonnter Verarbeitung. Dazu hat der Marmor schon zu viel gelitten und die jahrelange Nutzung der Konzert- und Konferenzhalle zu viele schädliche Spuren um das Gebäude herum hinterlassen.

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Nach vier Stunden in der Innenstadt tun Elfi die Füße weh und mir mein Rücken. Hätte vorab ohnehin nicht gedacht, dass ich solch einen Stadtrundgang ohne Fahrrad bewältige. Zufällig beobachten wir noch einen Protestmarsch pro Palästina, der uns einerseits vor Augen führt, wie engagiert einige hundert Menschen politisch-aktiv für ihre Ziele eintreten. Andererseits sehen wir, wie wenig Beachtung dieser Protest im geschäftigen Samstagsbetrieb Helsinkis findet. Kaum einer bleibt stehen. Wer liest die Plakate und hört die Sprüche? Alle gehen ihres Weges. Alle beschäftigen sich mit ihren Dingen: Shoppen, Trinken, Essen, Bekannte treffen oder mit dem Smartphone hantieren. Wir haben genug von dem Getriebe der Stadt. Noch einen Kaffee und eine Cola. Dann schnell mit der Bahn zurück in die Ruhe unseres stillen Strandhotels.Na ja so still ist es auch nicht mehr. Einige Hundebesitzer gehen mit ihren  Ausstellungshunden Gassi. NIemals allein. Meist in Rudeln. Wir sehen sie meist nicht, aber hören sie. Andere waschen, bürsten und kämmen ihre langhaarigen Prachtexemplare in einem extra dafür vom Hotel bereitgestellten Gebäude gegnüber unserem Eingang. Auch das Geblaffe dringt in unser Zimmer. Die Dog-Show hat uns eingeholt.

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Den Sonntag verbringen wir wieder in unserer herrlichen Bucht. Zwei Stunden paddeln wir mit einem Doppel-Kajak zwischen den Inseln im ‚Kallahdenselkä‘, wie dieser Teil des Finnischen Meerbusens heißt. Das Paddeln ist überhaupt nicht anstrengend, weil das Meer ganz ruhig ist und das Kunststoff-Boot sehr gut gleitet. Überraschend auch wie synchron wir minutenlang paddeln. Kajak fahren scheint uns besser zu liegen als Tandem fahren.
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Von unserem Rundkurs sind wir ganz angetan: vorbei an einzelnen Felsen, auf denen sich dunkle kleine Wasservöglen mit roten Schnäbeln tummeln, vorbei an Möwen und Schwänen auf felsigen unbewohnten Inselchen, vorbei an kleinen Naturhäfen, in denen Ausflugsboote ankern, vorbei an schilfigen oder sandigen Buchten, in denen Kinder und Jugendliche spielen, Familien grillen oder ihre Fische räuchern, Nackt-Bader sich zurück ziehen, vorbei an angelnden Männern in ihren kleinen Motorbooten und segelnden Ausflüglern in gemütlich dahin gleitenden Jollen. Finnisches Sommer-Sonntagsvergnügen.

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Am Montagmorgen ist der Himmel erstmals nicht strahlend blau. Passend zu unserer Abschiedsstimmung bleibt`s zunächst grau. Unsere gemeinsame Zeit ist vorbei. Für Elfi gehen damit auch die Sommerferien zu Ende. Für mich geht’s weiter um die Ostsee. Aber heute steige ich gar nicht so gerne auf. Ich wäre gerne noch geblieben in der abgeschiedenen Zweisamkeit des schon vertrauten Rantapuisto, im fleckig-warmen Schatten der Birkenwälder an Helsinkis Küste.