HALB ZEIT

Muscat, 11- 01-2009

Marcel gab Elvira einen wohl gemeinten, lieben brief mit in den Oman. Darin einige besorgte fragen, die er gar nicht beantwortet haben will, sondern nur als denkanstoß für mich stellt.

Die seinen fragen zugrunde liegenden gedanken, finde ich zur halbzeit meiner reise nicht nur persönlich bedenkenswert, sondern auch von allgemeinem interesse, so dass ich um seine einwilligung gebeten habe, hier darauf antworten zu dürfen.

1. Bist du noch auf der traumreise, die du dir vorgenommen hattest?

Ja, ich bin noch immer auf meiner Seidenroute. Um traumreise zu sein, ist sie viel zu lang und zu anstrengend. ‚Vorgenommen‘ habe ich mir nur, ein jahr zu radeln. Strecke, ziel und etappen waren nur grob geplant. Wo ich enden werde, liegt nicht fest. Das hält mich offen, für am weg liegendes, neues, interessantes, für alternativen, änderungen, abkürzungen, umwege, auch für ein vorzeitiges ende aufgrund technischer probleme. behördlichen schwierigkeiten, erkrankungen, unfällen oder simplem überdruss. (siehe 7.)

Aber es ist ein traum, so viel unabhängigkeit und zeit für sich zu haben. Ob ich sie sinnvoll nutzen kann, frage ich mich immer wieder. (siehe 6.)

Seit einiger zeit entspricht das verhältnis von rad-tagen zu transfer- oder ruhetagen nicht mehr meiner vorstellung. Im dezember bin ich an 7 tagen rad gefahren, im januar nur zum einkaufen oder zur iranischen botschaft. Bei allem erholungsbedarf ist mir das einfach zu wenig. (siehe 4.)

2. Wo sind die tollen, beeindruckenden erlebnisse und erfahrungen,die du in den ersten monaten(u.a.in der Türkei) hattest?

Sind Marcels erwartungen nicht ein bisschen hoch? Arabien und Araber sind anders als Türken und die Türkei. Dennoch: Simeons-kloster, die zitadelle von Aleppo, die polizeistunden und -eskorte in Syrien, die ‚bauchlandung‘ in Damaskus, die nacht bei der orthodoxen gemeinde in Esraa, der regen in der wüste von Palmyra, der Brühler kamelhändler in Irbid, die achsreparatur in Umm Quais, die steinwürfe im Jordantal, das weltwunder Petra, die spanische hilfe im Wadi Rum, die neue nabe in Aqaba. Soft Beach in Nuweiba, der sonnenaufgand auf dem Mount Sinai, das wiedersehen mit Lucy und Jo, die brotlosen tage in der wüste, natur und menschen in den oasen, ringen mit sand und wind, los lassen auf den langen segelstrecken.

Die letzten monate waren voller eindrucksvoller erlebnisse. auch wenn sie nicht immer angenehm waren. Vielleicht habe ich sie nicht beeindruckend beschrieben.

3. Wie fit fühlst du dich, bist du?

In Aqaba und Nuweiba je 2 tage pause, bei Lucy und Jo in Sharm el Sheikh eine woche all-in, in Luxor einen tag ruhe, in Kairo wieder zwei, mit Elvira im Oman 19 tage urlaub. Körperlich bin ich mehr als erholt. Ich fühle mich fitter als zu beginn der reise. Dieses gefühl entspringt aber zu großen teilen meiner eitelkeit (schlank = fit).

Mein unterer rücken schmerzt von den schlechten betten und der dünnen luftmatratze, vor allem wenn der boden darunter uneben oder zu hart ist. In der linken schulter sticht und brennt es, wenn ich den kameragurt länger trage. Mein linker rippenbogen ist geprellt seit einem ungeschickten fall auf der jeep-tour. Alles kleinigkeiten. Doch mit fast 58 auf recht beschwerlicher reise können kleine verletzungen und leichte verrenkungen zu langwierigen und schmerzhaften beschwerden auswachsen. Ich bleibe vorsichtig, versuche mich umfassend zu schützen achte und pflege meinen körper.

4. Wie sehr kannst du das rad fahren genießen?

Rad fahren ist das schönste auf dieser reise. Egal, ob über die holprigen straßen Syriens, auf dem bergigen ‚Königsweg‘ durch Jordanien, über die windige wüstenstraßen Ägyptens, ob auf 1500 m zum Berg Sinai oder zwischen den millionen fliegen auf minus 400 m am Toten Meer, ob auf glatten autobahnen oder durch Damaskus‘ oder Kairos ungeordnetem verkehrschaos. Rad fahren genieße ich überall.

Rad fahren ist genuss – immer wieder und immer noch. Aber auch notwendig für mein wohlbefinden, unabdingbar für meine ausgeglichenheit. Mein rastlosigkeit geht einher mit stillstand. Zufrieden eine rast einlegen kann ich, wenn ich sie verdient habe, wenn ich sie brauche. Dann erhole ich auch rasch. Ich fahre (noch) nicht zwanghaft rad, vernachlässige (noch) keine anderen pflichten. Rad fahren versetzt mich nur unter besonders günstigen bedingungen in einen rausch, aber es ist meine sucht.

5. Wie viel unterstützt dich Markus? Du ihn?

Immer wieder befürchte ich, dass ich Markus zu wenig unterstütze, ich zu viel von ihm profitiere. Das mir bekannte, eigene ungute gefühl, immer etwas zurück geben zu müssen, einem etwas schuldig zu sein, plagt mich da wieder.

Der gesamte abstecher nach Arabien/Ägypten ist Max‘ route. Ich wäre hier nie lang gefahren. Dadurch habe ich so viel sehen und erfahren können, das ich ohne Markus nie erlebt hätte. Natürlich könnte ich es auch als mein entgegenkommen sehen, dass wir hier zusammen radeln. Aber ich bin sicher,  Markus wäre hier auch alleine lang geradelt .

Bisher hat er noch keine kritik geäußert, nie etwas fallen lassen darüber, dass er mehr von mir erwartet. Auch mit seinem verhalten hat er mir noch nicht das gefühl gegeben, unzufrieden zu sein. Viel mehr spüre ich, dass wir uns immer besser kennen und verstehen.

Er hat mir schon oft geholfen und auf mich rücksicht genommen: mit dem knie in Kappadokien, beim fieber in Nigde, beim durchfall in Damaskus, gegen den wind in der wüste. Andererseits konnte ich ihm auch hin und wieder behilflich sein: beim kettenwechsel, luftpumpen, mit dem schein meiner lampe, landkarten, meinem Buff. – seine wüstenkappe, die ich im tausch so gerne getragen habe, haben mir kinder in Bahariya leider vom gepäckträger gemopst – mit tape, spray, öl, senf und currypulver. Einmal auch mit geld. Kleinigkeiten, ich weiß. Manchmal auch mit meinen einwänden, bedenken, mit alternativen vorschlägen, gelegentlich mit meiner entschlossenheit, meiner risikofreude, ab und zu mit einer witzigen bemerkung.

Aber du solltest ihn besser selbst fragen, um zu erfahren, welche unterstützung er bislang von mir erhalten hat. Ich jedenfalls habe an Markus einen tollen radpartner. Er ist gesprächig, aber nicht plapperig, konsequent aber tolerant, hilfsbereit und kompetent, zielstrebig und offen für alternativen.

6. Schaffst du es mit deiner reise den akku wieder auf zu laden, freude und kraft für die zeit hier zu tanken?

Akku aufladen ist kein einmaliger vorgang, der irgendwann anfängt und dann abgeschlossen ist. Akkus entladen sich immer wieder und bedürfen dann wieder neuer energie.

Ein jahr reisen zu können, ist nicht gleich zu setzen mit einem jahr urlaub. Auf jeden fall will ich mich erholen, auftanken, auffrischen, erweitern, anreichern, beglücken.

Ein jahr reisen zu können, verstehe ich auch als verpflichtung. Es ist eine einmalige chance. Die will ich wahr nehmen. Dabei geht es nicht um das erreichen eines bestimmten ziels.

Neues sehen, anderes erleben, fremdartiges begreifen, möchte ich. Mich selbst in anderem umfeld, in unbekannter umgebung, im ausnahmezustand erleben. Mich selbst im verhalten zu anderen, im verhältnis mit anderen und in verbindung zu anderen erfahren, um mir selbst bewusster zu werden. Bewusster werden der eigenen fähigkeiten, eigener bedürfnisse, meiner vorlieben ängste und schwächen, meiner ganzen persönlichkeit.

Die seele muss zur erholung etwas finden, worüber sie sich freuen kann. Das radfahren bietet mir diese freude. Ganz besonders, wenn „es rollt“. Das beglückende gefühl vorwärts zu kommen, suche ich. 

Ein spanischer reise-journalist, mit dem ich in der rosa wüste des Wadi Rum lange übers reisen, meine tour, auszeiten und burn-out gesprochen habe, meinte bei unserem abschied: „Back in Germany, back in your job, back in your family keep cycling your way.“

Sehr deutlich spüre ich, dass diese freudvollen erfahrungen grenzwertig werden, wenn die reisebedingungen zu unwirtlich, die bereisten orte zu wenig gastlich sind, das reisen auch psychisch zu beschwerlich wird. Der gestank und das ungeziefer mancherorts, manch dreckige unterkunft, manche unverschämten gastgeber, manche hilflos armen menschen nehmen mir die freude.

Aber auch das sind erfahrungen, die wertvoll und gewinnbringend sein können, wenn ich nicht im ärger, im ekel oder im unglück verharre. „… aber was ist das für ein überflüssiges Gefühl, dieser Ekel, wie sehr entfernt er mich von den Menschen, die ich zu verstehen trachte und die sich den Luxus dieses Ekels nicht leisten können.“ (Ilija Trojanow, Sehnsucht, S. 141)

Du fragst nach ‚freude für die zeit hier‘. Schon seit monaten spüre ich, wie ich völlig alltägliches aus meinem deutschen leben vermisse. Ich möchte mal wieder „hausmannskost“ essen, ein verlangen, das ich bisher auf reisen nicht kannte und bei anderen verurteilt habe. Außer auf bier, müsli und sauerbraten freue ich mich auf rasen, grünes kurz geschnittenes gras, das ich im vorgarten nie gemocht habe. Oder auf regenwetter, das ich als radfahrer stets hasste. Auf einen abend vor dem fernseher, den ich früher meist vorzeitig beendet und als spießig abgetan habe. Einfach im laden mit einer frau sprechen, im café von einer hübschen kellnerin bedient werden, in einer gemischten gruppe mit frauen und männern diskutieren, das kann ich seit monaten nicht. Es fehlen mir ein glas wein beim essen, musik zum entspannen (türkische nervt, arabische langweilt mich). Mir fehlt der klang unserer sprache  (Max spricht österreichisch, Arabisch ist eher ein lautes geräusch). In Sittard möchte ich backfisch essen. In Havert möchte ich mit euch allen reden und an den gräbern beten. Im ‚Zeit der Kirschen‘ möchte ich mit meinen Mädchen brunchen. Vor dem kamin möchte ich mit Elvira zärtlich sein, eng  umschlungen einschlafen und morgens lange mit ihr reden beim ausgiebigen frühstück. Wieder zurück in Europa werde ich all dies anders empfinden, anders würdigen und hoffentlich viel mehr schätzen können.

Ist das heimweh? Es ist die sehnsucht nach den orten, an denen ich wurzeln habe, nach den menschen, die mir nahe stehen. Aber ich empfinde dieses verlangen nicht als schmerz, nicht als beschränkung meiner reise. Vielmehr als bereicherung – sowohl jetzt unterwegs in meiner sehnsüchtigen vorstellung als später zuhause, wenn ich all dies intensiver und ausgiebiger genießen werde.

Eine junge schwangere Schweizerin im Beduine Garden Village in Aqaba meinte zu den erfolgsaussichten einer solchen akku-aufladung auf einer auszeit-reise: ‚Wenn du wieder daheim bist, wird sich nicht viel verändert haben in Deutschland, in deinem job, im alltag deiner freunde, deiner kinder oder deiner frau. Aber du wirst ein anderer sein. Du wirst alles mit anderen augen sehen. Also wird alles anders sein – für dich.‘

Ob das reicht, frag ich mich. Ob das genug kraft gibt nach einem jahr, möchte ich gerne wissen. Ein zitat aus dem buch ‚Sehnsucht‘, das du mir mitgegeben hast, hilft vielleicht zu verstehen, dass richtig verstandenes reisen immer ein suchen bleibt, aber das glück nicht immer darin zu finden ist: „Aufbruch hat tatsächlich etwas damit zu tun, dass man in dem Unvertrauten neu suchen kann. Im besten Fall findet man dabei etwas, das dem leben eine neue wendung gibt.“

7. Traust du dich STOP zu sagen, wenn du spürst, dass die reise dich nicht dahin führt, wo du hin wolltest?

Ich weiß jetzt zur halbzeit nicht, wusste auch zu beginn nicht, wohin die reise mich führen wird. Auch weiß ich nicht sicher, wohin ich will/wollte. Ich hoffe ja, dass die reise mich zu mir selbst führt. Aber werde ich spüren, wenn sie an mir vorbei zu gehen droht? Werde ich spüren, dass ich vom weg abkomme?

Du denkst, es könnte sein, dass sich der sinn dieser reise, meine ursprüngliche absicht mit ihr so verändert, dass ich mich nicht mehr damit identifizieren kann, mich nicht mehr wohl fühle auf der reise?

Welchen sinn hat die reise überhaupt? Welche absichten verfolge ich mit ihr? Ein jahr richtung China radeln, will ich. Ein jahr unterwegs sein. Ein jahr reisen. Länder, städte, dörfer, landschaften, menschen sehen und kennen lernen aus der sicht des radfahrers, aus der sicht eines schon älteren deutschen grundschullehrers, aus meiner eigenen sicht. Eindrücke will ich sammeln. Erfahrungen machen, die mir zuhause nicht möglich sind. Neues entdecken, fremdes tolerieren. Parallelen und gegensätze mit zuhause vergleichen. Auf diese weise eine veränderte sicht auf die dinge des alltags bekommen und anders leben lernen. Eine reise mit diesen zielen geht nie zu ende. Sie führt zu mir selbst, indem ich anderes und mich selbst kennen lerne.

Das thema meiner reise ist die seidenstraße. Ihr endpunkt im osten ist – historisch gesehen – Xian. Aber ich will nicht um jeden preis dorthin. Zugegeben: jenseits der chinesischen grenze würde ich zufriedener nach hause fliegen. Aber ich werde überall aufhören können, wenn ich denke: Es reicht!