Im peloton über die berge Galiciens

Montag, 17. Juli :  Rabanal – Sarria

17. etappe: Rabanal – Sarria 145 km 20,6 km/h   insg. 2230 km

Um halb sieben werde ich von mücken zerstochen wach. Die wäsche vor meinem fenster hängt schlaff, aber trocken auf der leine. Also –  schon mal kein wind. Aber auch noch keine sonne! Denn die scheint hier in den bergen auch im sommer nicht selbstverständlich. Um 7.00 uhr habe ich alles verstaut. Für 400 peseten (4,80 DM) bekomme ich mit den belgiern zusammen das erste mal auf meiner tour ein deftiges frühstück: graues, säuerliches brot – so viel ich möchte – butter, schinken, käse, marmelade, joghurt, obst und milchkaffee.

Nach solch einer ersten mahlzeit fahre ich viel energischer los. Inzwischen steht auch die sonne am himmel, aber es ist noch frisch, jedoch nicht kalt und neblig, wie der ober gestern abend vermutete. Aber geich zu beginn klettern – erst einmal sechs kilometer mit einer mittleren steigung von 8 % und dann drei kilometer bis zum gipfelkreuz auf 1505 metern mit 10 bis 12 % – das ist nicht so angenehm für die beine. Dennoch finde ich schon bald meinen tritt.

Die landschaft der Maragateria ist karg, aber beeindruckend schön: über niederem buschwerk, sträuchern, heide und gräsern erheben sich runde grüne kegel, hinter denen die über 2000 m hohen kahlen gipfel der Sierra de Teleno in den blauen fast wolkenlosen himmel ragen. Dörfer oder irgeneine andere siedlungsform suche ich vergebens. Einzig die straße unter meinen reifen und eine ferne hochspannungsleitung sind in diesem unendlich scheinenden grün-braun anzeichen menschlichen daseins. Ab und zu kommt der fußpilgerpfad der straße so nah, dass ich die schon recht vielen wandergruppen grüßen kann, die entweder fröhlich quasselnd oder still vor sich hin schnaubend bergwärts marschieren. Mehrmals kreuzt der pfad die straße, weil sein verlauf direkter und dadurch erheblich steiler ist als der der kurvenreichen straße.

Hier oben macht das radfahren freude trotz der steigung, die so viel von mir verlangt, dass ich auf den letzten kilometern vor dem eisenkreuz tüchtig ins schwitzen gerate. Die italiener aus dem hotel treffe ich kurz vor dem gipfel. Sie applaudieren, als ich sie überhole, ohne jede ironie. Wie viele italiener würdigen sie sportliche leistungen mit freundlichem applaus. Womit ich nicht behaupten will, dass ich auf diesem anstieg eine besondere sportliche leistung vollbracht hätte.

Am Cruz de Ferro sind schon viele pilger angekommen. Fast alle schießen fotos oder lesen auf den steinen und zetteln, die pilger hier hinterlassen haben. Auch ich lege meinen glatten schwarzen fast runden maaskiesel auf den etwa 20 m hohen steinhaufen, der hier im laufe der zeit entstanden ist. Der brauch, hier einen stein abzulegen als symbol für eigene laster/n, belastendes oder belastungen, die man im leben mit sich schleppt, wird erstmals erwähnt in einem pilgerbericht aus dem 12. jahrhundert.

Dies ist der höchste und schwierigste punkt der gesamten wallfahrt. Ein echter höhepunkt. Und ich bin stolz und dankbar, ihn erreicht zu haben. Hier oben fühle ich – wie jeder pilger, der den weg bis hierhin zurückgelegt  hat -, dass ich Compostela erreichen werde. Aber ich habe daran nie gezweifelt, nachdem ich einmal unterwegs war. Jetzt sind es ja nur noch gut 200 kilometer. Aber ich weiß auch, dass es von hier aus nicht nur bergab geht, sondern dass noch einige lästige anstiege und manche anstrengende kletterei auf mich warten.

Mehr als 140 kilometer weiter westlich werde ich morgen zwei sehr unbekümmert gläubige und herzlich frohe flämische radpilgerinnen einholen – etwa fünfzig-jährige frauen aus Gent -, die das Cruz de Ferro passiert haben, ohne es zu registrieren. Sie fragen mich nämlich, wann sie endlich ‚de steentjes op die groote hoop leggen‘ könnten. Ich denke, ich fall vom rad und muss ob dieser naivität so lachen, dass die beiden mich mit großen augen entrüstet anschauen, bis ich mich entschuldige. Ich erkläre ihnen dann schonend, dass sie ‚de steentjes‘ wohl wieder mit nach hause nehmen könnten, weil sie ‚jammer genoeg langs de groote hoop‘ gefahren seien. Zunächst glauben sie das nicht. Aber als ich ihnen auf der karte zeige, dass das eisenkreuz schon hinter ihnen liegt, fangen sie ihrerseits an herzlich zu lachen und meinen: „Nou, dann leggen wij de steentjes maar bij St. Jacques neer.“ So einfach ist das für wirklich gläubige: Sie werden den ballast des lebens schon los – wenn nicht beim gekreuzigten selbst, dann bei einem heiligen.

Bevor ich an der langen abfahrt nach Ponferrada beginne, ziehe ich mich wärmer an. Dann rolle ich los. Zunächst nur gut zwei kilometer runter bis Manjarin. Im vorbeifahren fällt mir die armselige hütte auf des vor allem von ‚extrem-pilgern‘ (draußenschläfer, barfußgeher, fastenwanderer u. ä.) viel zitierten Tomas, der sich als letzter Templer versteht und das mit einem angeblich uralten schwert belegt. In seiner primitiven hütte bietet er pilgern in diesem ansonsten menschenleeren örtchen eine ganz einfache unterkunft. Ich soll ihm grüße ausrichten von Jeanette, der Amsterdamerin, die ich in Vezelay getrofffen habe. Aber Tomas ist nicht in seiner hütte.

Hinter Manjarin folgt ein gegenanstieg mit nochmals 12% steigung bis zur höhe der militärstation, vor der ich links ins tal hinunter sause. Mit so viel gewicht hat man schnell 60 stundenkilometer erreicht. Die reichen mir dann auch. Zum glück ist der straßenbelag in ordnung und kein verkehr auf der schmalen straße, deren kurven meist gut einzusehen sind. Aber manche stellen sind so steil, dass ich doch tüchtig bremse. Nach sechs kilometern brause ich ins erste dorf El Acebo. Die häuser in diesem kleinen bergdorf, in dem ich auch keinen menschen erblicke, sind völlig verschieden von den häusern auf der anderen bergseite: graue natursteinmauern, darüber loggia-artige holzauf- und vorbauten mit außentreppen, gedeckt mit schieferplatten. Sie besitzen schmale giebel, sind sehr klein und vor allem sehr alt. Diese bauweise mit den überhängenden von außen zugänglichen zimmern ist wohl einzigartig in Europa. Die häuser zählen schon zu den galicischen eigenarten, obwohl das gebiet politisch und historisch gesehen noch zu Kastilien gehört. Die verwendeten baumaterialien erinnern mich an die Eifel oder an die häuser in Connemara. Übrigens leute, die Irland kennen und nach Galicien kommen, sehen viele landschaftliche ähnlichkeiten.

Als straßenbelag ist in El Acebo holpriger schiefer verlegt, der durch quer zum berg verlaufende wasserrinnen gefährlich rutschig ist. Ich halte für ein foto an, lasse dann die bremsen wieder los und schon fahre ich wieder 50 km/h. Dadurch sehe ich auch das rostige fahrrad-mahnmal erst, als ich schon daran vorbeigeflitzt bin. Es soll an einen tödlich verunglückten radfahrer erinnern und mich zu vorsichtiger fahrweise mahnen.

Nach einer halben stunde rolle ich weiter im tal des Rio Sil nach Ponferrada, der hauptstadt des gebietes El Bierzo, ein fruchtbares becken, das mit seinen wein-, obst- und gemüsegärten sowie kartoffel- und getreideäckern, die noch nicht alle abgeerntet sind, von einem kranz hoher berge umgeben ist. Die stadt selbst lebte jahrhunderte lang hauptsächlich vom erzabbau und heute von der damit verbundenen verarbeitenden industrie. So ist es auch nicht verwunderlich, das schon im 11. jahrhundert hier eine brücke über den Sil gebaut wurde, die ein eisernes geländer hatte. Daher auch der name der stadt, der vom lateinischen ‚pons ferratus‘ – eisenbrücke – abgeleitet ist. Als pilgerstation wurde die stadt bedeutend, als die Templer hier im 12. jahrundert die gewaltige noch erhaltene burg errichteten.Nach weiteren acht kilometern kurvenreicherer und damit weniger steiler abfahrt erreiche ich das in einem romantischen tal gelegene und gepflegt wirkende Molinaseca, wo die alte pilgerbrücke über den Meruelo sich nahezu vollständig im flusslauf spiegelt. Im komfortabel ausgestatteten Hostal de Palacio gleich am flußufer neben der brücke auf einer hübschen terrasse nehme ich mein zweites frühstück.

Die vorstadtvillen erinnern mich an teuere französische villen aus den 50er und 60er jahren. Die stadt selbst wirkt modern und überlastet, wie aus sich selbst herausgewachsen. Wegen des chaotischen verkehrs habe ich schwierigkeiten, in die altstadt zu gelangen. Nicht mal die alte pilgerbrücke kann ich fotografieren, weil ich mit dem rad nicht anhalten kann in diesem chaotischen verkehr. Durch ein ausgedehntes industriegebiet mit viel staub und dichtem verkehr erreiche ich endlich zunächst die neue N IV, dann die alte und viel ruhigere landstraße durch Camponaraya nach Cacabelos, über den Riu Cua und durch Pieros nach Villafranca del Bierzo. In Cacabelos sehe ich noch mal ein storchennest auf dem kirchturm. Das hätte ich diesseits des gebirges nicht mehr erwartet. Aus dem tal des Cua heraus muss ich wieder tüchtig klettern. Mindestens zwei kilometer lang, nicht angekündigt im radführer und deshalb besonders lästig.

Aber Villafranca del Bierzo lohnt diese mühe mit seinen sehenswürdigkeiten und dem flair einer mittelalterlichen pilgerstation. Zunächst sehe ich auf der abfahrt oberhalb der stadt die Santiago-kirche liegen, weiß da aber noch nicht, dass die berühmte ‚Puerta del Perdon‘ an dieser kirche zu bewundern ist, rolle also weiter runter bis ich auf halber höhe südwestlich der stadt die vier wuchtigen rundtürme der burg des markgrafen von Villafranca aus dem 16. jahrhundert entdecke. Danach rolle ich weiter ins stadtzentrum, in dem einige hübsche geschäfte und restaurants mit arkaden die pilger-touristen zum bummeln oder verschnaufen einladen.

Auf einer der sonnigen terrassen esse ich zu mittag und unterhalte mich dabei sehr angeregt mit einem norwegischen ehepaar, das den camino von Pamplona aus geht. Heute müssen sie pausieren, weil die füße der frau überanstrengt und geschwollen sind. Ich biete ihr aus meiner reiseapotheke das eisgel an und sie schmiert sich damit auch gleich beide knöchel ein. Dann erzählt sie, dass sie vor zehn jahren bereits den camino von Astorga aus gelaufen ist und nun doch sehr erschrocken ist über die fortgeschrittene kommerzialisierung und die unverschämtheiten, die mittlerweile viele pilger im kampf um übernachtungsplätze an den tag legen.

Ihr mann, der den weg zum ersten mal geht, teilt ihre krtitik nur teilweise, scheint aber auch weniger verbissen als seine frau. Er findet die wanderung zwar anstrengend, aber nicht zu schwer – sie gehen bisher ca. 20 km am tag. Die verschiedenen landschaften, die sie durchwandert haben, gefallen ihm ausgezeichnet und wegen der kunstschätze, die ihm hier auf schritt und tritt begegnen, ist er überhaupt nur unterwegs. Er ist protestantisch – seine frau katholisch – und mit heiligenverehrung oder gar ablasshandel hat er nichts am hut. Genau wie seine frau bedauert er, dass viele spanische gastgeber wenig gastfreundlich und unflexibel sind.

Nach der mittagspause kaufe ich noch im supermarkt wasser, obst, teilchen und joghurt. Dabei sehe ich eine große rennradgruppe aus Zonhoven in Belgien mit einem begleitfahrzeug vorbeifahren. Die werden wohl genau wie ich die bergfahrt zum Porto de Pedrafita, der grenze zu Galicien in angriff nehmen.

Vorher will ich aber noch zurück zur St. Jakobskirche und dem berühmten ‚Tor der Vergebung‘, unter dem pilger unter bestimmten vorausssetzungen schon vor erreichen des eigentlichen ziels die vergebung aller sünden erlangen konnten. Ich wähle eine kleine pflastergasse hoch zur kirche, die so steil ist, dass ich beinahe absteigen muss. Der junge student in der kirche erklärt mir – leider in spanisch – einiges über geschichte und ausstattung des romanischen gotteshauses, das nur aus einem schiff besteht und auf der nordseite dieses reichverzierte portal besitzt, unter dem die pilger ihren ablass erhielten, die wegen einer krankheit oder eines andern gebrechens nicht mehr bis Compostela weiter ziehen konnten. Aber fotografieren lässt der junge mann mich nur draußen.

Zuletzt besichtige ich im ort noch kirche und kloster San Nicolas, dass heute ein hotel beherbergt. Dann fahre ich aus dem ort heraus über den Rio Burbia, hinter dessen alter brücke sich schon die kommenden berge ankündigen. Die nächsten 30 km führen ständig bergan, schreibt mein radführer. Tatsächlich lese ich nachher auf meinem tacho ab, dass ich von Villafranca (500 meter)  bis Pedrafito (1100 meter) 29 km zurückgelegt habe. Die gesamte strecke steigt wirklich kontinuierlich an – meist sanft, manchmal nur als ‚falsch platt‘, aber gelegentlich auch so steil, dass ich aus dem sattel muss.

Die hitze steht hier zwischen den bergen. Leider nimmt auch der verkehr zu. Die alte landstraße kann ich nur noch innerhalb der ortschaften Pereje, Trabadelo und Portela fahren. Ansonsten werde ich auf die neue und von vielen lkw befahrene nationalstraße geführt. Oberhalb dieser straße wird eine neue autobahn gebaut. Daher rührt der starke lkw-verkehr. Die brückenbauwerke, die eine autobahn in solch einer bergigen region benötigt, kommen mir waghalsig vor. In einigen jahren werden die radpilger hier unten, wo ich unter abgasen und staub der lastwagen leide, ungestört hinauf strampeln können, sofern nicht hohe autobahngebühren die lkw doch auf die nationalstraße zwingen.

Bei Ambasmestas will ich mich gerade entscheiden, ob ich weiter auf der nationalstraße bleibe oder die mühselige kleine straße über Herrerias nehme, als ich hinter mir jemanden erstaunt rufen höre: „Kiek doa, eene van Maaseik!“ Ich schau mich um und sehe die belgische rennradgruppe aus Zonhoven heran gekeucht kommen. Anscheinend haben sie in Villafranca länger pause gemacht als ich und rollen nun an mir vorbei. Ich grüße freundlich und merke als sie passieren, dass ich dieses tempo auch fahren könnte. Also schnell rauf aufs rad und hinterher. Rasch hole ich erst ihr begleitfahrzeug ein. Noch einmal aus dem sattel und ich hänge als letzter mann in diesem gruppetto. Denn so gemütlich wie eine gruppe abgeschlagener sprinter strampeln sie hier hoch. Manche ältere oder schwergewichtigere der 17 renner keuchen angestrengt, andere jüngere und gut trainierte fahren ganz locker nebenher. Einer der fitteren erzählt mir, dass sie vor 12 tagen in Zonhoven losgefahren und heute in Astorga gestartet sind. Damit haben sie heute 20 ansteigende kilometer mehr zurückgelegt als ich.

An der abzweigung in Pedrafita legen sie wieder eine pause ein, denn dort wartet ein zweites begleitfahrzeug, das ständig voraus- und die geplante route abfährt. Als der fahrer des nachfolgenden autos merkt, dass ich weiter will, lädt er mich ein, auch eine kleine rast einzulegen. Ich bekomme einen becher milchreis, eine banane und ein isotonisches getränk von ihm. Einige der fahrer interessieren sich für meine strecke und mein gepäck. Nachdem einer mein rad hoch gehoben hat, klopft er mir bedauernd auf die schulter und schüttelt gleichzeitig den kopf, als ob er sagen wolle: „Wie kann man nur so blöd sein!“

Nach 10 minuten geht’s weiter richtung Cebreiro-pass, erst flach, dann drei kilometer mit einer maximalsteigung  von 12 % bis auf 1300 m, wo auf der passhöhe eine große moderne pilgerstatue gegen den ewigen westwind zu kämpfen scheint. Schnell mache ich ein foto auf dem pass und stelle fest, als ich auch die statue ablichten will, dass wieder mal der film voll ist. Verärgert darüber, dass ich nun schon zum drittenmal auf dieser tour an einer markanten stelle nicht fotografieren kann, hole ich die Belgier wieder ein, die auf der passhöhe nicht angehalten haben. Jetzt geht’s zunächst etwa drei kilometer abwärts bis Linares. Dann folgt ein kürzerer anstieg zum Alto de San Roque. Von dort fällt die straße erst ein wenig ab, um dann noch einmal drei kilometer anzusteigen zur Alto do Poio auf 1337 meter. Trotz der steigungen kann ich mich am ende des belgischen pelotons bequem halten. Vor allem hier auf der höhe ist es sehr angenehm, bei gegenwind den windschatten der großen gruppe auszunutzen.

Auf dieser letzten passhöhe vor der 10 kilometer langen abfahrt nach Triacastela halten die rennradler nochmals an. Ich möchte nicht wieder von ihnen bewirtet und für einen schnorrer gehalten werden. Deswegen winke ich freundlich dankend und fahre weiter. Vielleicht sehen wir uns ja heute abend in Sarria, denke ich, rufe es aber nicht laut, weil ich noch nicht sicher bin, ob ich soweit heute überhaupt komme.

Die abschüssige straße nach Triacastela ist so gut ausgebaut und breit, dass ich hier gefahrloser und genussreicher als heute morgen  mit 50 stundenkilometern runter brausen kann. Das rad liegt trotz des gepäcks ganz ruhig auf der straße, wie ich mich überhaupt auf der ganzen fahrt wundern muss, wie wenig die doch erhebliche gepäck-zuladung das fahrverhalten des rades beeinflusst.

In Triacastela kaufe ich einen neuen film, wasser und obst. Denn ich will noch über 20 kilometer schaffen bis Sarria, damit die morgige schlussetappe nicht all zu lang wird und ich früher in Compostela bin und damit evt. eher einen herbergsplatz finde.

Im Ort besichtige ich die Santiago-kirche und suche das ehemalige pilgergefängnis, in dem noch wandkritzeleien mittelalterlicher gefangener zu sehen sind. Aber niemand kann mir sagen, wo das gefängnis ist. Bei meiner kurverei durch den ort stoße ich auf eine schweizer familie, die mit ihrem achtjährigen töchterchen den camino radelt. Allerdings fährt das kind auf einem einrädrigen tretmobil mit, das an papas moutainbike angeklemmt ist. Ob so ein kleines mädchen daran freude hat?

An der abzweigung nach Samos schaue ich nochmals kurz auf die karte, als mich die Zonhovener wieder einholen. Wieder hänge ich mich an die gruppe und kann ihrem tempo ohne schwierigkeiten bis Samos folgen. Dort fotografiere ich das riesige kloster. Leider kann ich die beiden kreuzgänge des Benediktinerklosters nicht besichtigen, weil montags keine führungen stattfinden. Also wieder in den sattel und hinter dem peleton her. Bis Sarria sind es noch 12 km. Etwa 3 km vor dem ort hole ich die gruppe wieder ein. Der fahrer am steuer des begleitfahrzeugs sieht mich im rückspiegel kommen, lässt sich bis auf meine höhe zurückfallen, um mich dann im windschatten seines autos zum peloton heran fahren zu lassen. ‚Alter Idiot!‘, denke ich über mich selbst. Immer noch der gleiche ehrgeiz.

Auf der letzten gefällstrecke kurz vor Sarria könnte ich locker an der gesamten gruppe vorbeifahren, aber ich beherrsche mich. Während die rennradler am stadtrand zu einem hotel abbiegen, fahre ich ins zentrum zu einer der herbergen. Sie sind – wie nicht anders zu erwarten – fast alle belegt.

Ab Cebreiro merke ich deutlich, dass die zahl der fußpilger noch zunimmt und auch deren zusammensetzung sich verändert: Immer mehr oft lautstarke jugendgruppen und fröhlich feiernde vereine sieht man nun, die den pilgerweg als billige wanderurlaubs-möglichkeit nutzen. Umso rarer sind die schlafplätze.

Ein ziemlich herunter gekommenes hostal hat aber noch platz für mich. Gegen einen geringen aufpreis könnte ich sogar ein einzelzimmer bekommen, müsste aber ein bad auf dem flur benutzen, in dem die stemmarbeiten vom letzten rohrbruch noch nicht abgeschlossen sind. Obwohl das bettzeug sauber aussieht, ekele ich mich ein wenig vor den dreckigen böden, den schmutzigen fluren und diesem bruchbad. Darum versuche ich erst noch eine andere unterkunft zu finden. Ein zwei-sterne-hotel an einer ausfallstraße nimmt 4000 peseten  (48 DM) für eine übernachtung. Aber so viel besser als das hostal ist es auch nicht. Eine deutsche fußpilgerin bucht zwar gerade ein hotelzimmer, aber ich gehe doch ins hostal. Dort treffe ich auf andere pilger und eher auf pilgerstimmung.

Nachdem ich in einem dunklen flur mein rad abgeschlossen und entpackt habe, dusche ich in meinen sandalen besonders vorsichtig. Dann suche ich in der hochgelegenen altstadt ein lokal, das mir der patron des hostal empfohlen hat. Aber es ist noch zu früh fürs abendessen. Darum gehe ich erst noch in eine rosenkranz-andacht in einem kleinen kirchlein. Pünktlich um halb neun, sitze ich aber vor dem lokal auf der straße an einem runden tisch und bekomme für 2800 peseten ein wohlschmeckendes vier-gänge-menu, eine 1/2 l rotwein und einen kaffee mit einem mir unbekannten weißen spanischen schnaps.

Am nachbartisch isst die deutsche pilgerin, die vorhin das hotelzimmer genommen hat. Sie erzählt, dass sie unterwegs viel zeichnet und meditiert, meistens draußen schläft oder in ganz einfachen refugios wie bei Tomas in Mandarin. Als ich sie erinnere, heute sei sie aber in einem hotel untergekommen, stutzt sie, will erst noch irgendwelche ausflüchte suchen, gibt dann aber einfach zu, dass sie sich nach einer warmen dusche und einem frischen bett gesehnt habe, nachdem sie eine woche lang nur draußen oder in primitiven unterkünften genächtigt habe. Das kann ich gut verstehen. Aber ich glaube nicht, dass sie das auch zugegeben hätte, wenn ich sie nicht im hotel gesehen hätte.

Typisch frau im jahr 2000: Es reicht nicht, wenn sie 800 kilometer allein durch das heiße und bergige Spanien läuft. Nein, sie muss dabei auch noch in der freien natur schlafen, sich in kalten gebirgsbächen waschen und sich von beeren und heuschrecken ernähren. Das ist emanzipation! Deshalb bestellt die asketin jetzt auch solch ein großes bier, wie ich eins vorhin getrunken habe.

Nach dieser bergetappe schlafe ich zufrieden ein. Zuvor habe ich mit Gabriele telefoniert und ihr voller stolz erzählt, dass ich heute im peloton über die berge gekommen bin und morgen schon in Compostela ankomme. Sie meint nur: „Du bist bekloppt!“