Jakobsweg – mehr als ein weg

Im allgemeinen spricht man vom jakobsweg, in französisch vom chemin de St. Jacques und in spanisch vom camino de Santiago. Das könnte fälschlicherweise zu der ansicht führen, es gäbe nur einen pilgerpfad nach Compostela. Tatsächlich aber sind im laufe der jahrhunderte die pilger auf ganz verschiedenen routen in Galiciens hauptstadt gepilgert. Dies verdeutlicht am eindrucksvollsten eine karte mit allen bekannten europäischen routen nach Santiago:

Von all diesen routen ist der ‚camino real‘, der königsweg – oder ‚camino frances‘ (französischer weg) – der bekannteste, der meist frequentierte und kulturhistorisch der interessanteste. Er führt von Puenta la Reina nahe Pamplona 700 km westwärts nach Santiago de Compostela.

Durch Frankreich bestehen vier hauptwege, die seit der ersten jahrtausendwende von jakobspilgern gegangen werden: 1. die südlichste ‚Via Tolosa‘, die die pilger aus Italien und Südfrankreich nehmen und die über Arles und Toulouse führt; 2. die östliche, wohl bekannteste, landschaftlich schönste, aber auch beschwerlichste ‚Via Podensis’, der die pilger aus der Schweiz, aus Süddeutschland und aus den östlichen regionen Frankreichs folgen über Le Puy en Velay, über den Aubrac – einen gebirgszug mit 1400 m hohen bergen – über Recamadour und Moissac; 3. die westliche ‚Via Turonensis‘, die auf mittelalterlichen karten auch ‚Niederstraße‘ genannt wird und über Paris, Tours und Bordeaux meist in küstennähe bis zu den Pyrenäen führt; auf dieser route wandern die belgischen, niederländischen und norddeutschen pilger, also auch diejenigen, die in Aachen starten. 4. Mitten durch Frankreich vom nordöstlichen Vezelay ins südwestliche St. Jean Pied de Port verläuft die ‚Via Lemovicensis‘ über Bourges, Limoges und Perigueux, der ich gefolgt bin. Die drei letztgenannten hauptwege treffen noch auf französischer seite vor überquerung der Pyrenäen bei Ostabat zusammen, um dann über den Ibanetapass das grenzgebirge zu überwinden. Auf der südlichen route überquert man die Pyrenäen auf dem Somportpass. In Puenta la Reina treffen dann alle vier zusammen und führen als ‚camino real‘ nach Santiago. Kulturhistorisch betrachtet ist der ‚camino real‘ viel mehr als nur ein weg zur reliquie des apostels Jakobus, des Älteren, dessen leichnam nach seiner enthauptung 44 n. Ch. in Jerusalem der legende nach an der galicischen küste in einem boot angespült wurde, wo er vorher mit geringem erfolg das christentum gepredigt haben soll. Erst 800 jahre später wurde das grab des apostels angeblich von einem einsiedler entdeckt, dem im traum ein von sternen erleuchtetes feld erschien, auf dem man dann einen leichnam fand.

Ob es sich dabei tatsächlich um die gebeine des apostels Jakob handelte, ist bis heute sehr umstritten. Das feld wurde nach dieser legende ‚campus stellae‘ genannt (feld der sterne/sternenfeld), woraus später ‚Compostela‘ wurde. ‚Santiago‘ ist die kurzform von Sancto Iago (Hl. Jakob). Diese ‚wundersame‘ entdeckung des grabes fiel nicht ganz zufällig in die zeit der beginnenden ‚Reconquista‘, der wiedereroberung Spaniens aus den händen der arabischen besatzer. Der spanische jakobsweg wurde im laufe der zeit – ausgebaut mit hospizen und befestigt durch viele ritterburgen – eine vorposten-kette und eine ‚effektive propaganda und kriegsresourcenmoblisierungsmaschinerie’1 im kampf gegen die mauren. Das schwer angeknackste selbstwertgefühl der besetzten spanier erfuhr eine unermessliche stärkung durch die existenz des weges und den wirtschaftlichen aufschwung, der mit dem immer stärker werdenden pilgerstrom einher ging. Wunder und legenden – wie das der entdeckung des grabes oder noch stärker die legende vom ‚Matamores‘ – dem maurentöter -, in der der apostel selbst auf einem weißen pferd reitend und ein riesiges schwert schwingend den arabischen eindringlingen die köpfe abschlägt – waren äußerst willkommen zur popularisierung des pilgerweges und verfehlten nicht ihre wirkung als moralische unterstützung im kampf gegen maurische einflussnahme. Mittelalterliche menschen waren ganz besonders empfänglich für solche heldengeschichten und verehrten (angebliche) reliquien dieser heroen in einer innigen art, die wir heute nicht mehr kennen. Auch die legenden und gesänge von Karl dem Großen, der übrigens nie in Compostela war, seinem treuen gefolgsmann Roland oder dem spanischen freiheitskämpfer El Cid, die erst viele jahre nach deren historischem tod auftauchten, trugen in starkem maße dazu bei, die anziehungskraft des camino zu erhöhen. Die verbreitung dieser legenden steigerte die popularität des jakobsweges enorm. Der camino lebte von solchen geschichten und blieb gerade für volkstümliche pilger stets besonders attraktiv.

Die genannten historischen zusammenhänge können nicht erklären, worin die besondere anziehungskraft dieses weges liegt. Verglichen mit dem von der offiziellen amtskirche protigierten Rom oder dem machtpolitisch bis heute umstrittenen Jerusalem, hatte das galicische regenloch Santiago de Compostela zunächst nur diese legenden und die umstrittene reliquie zu bieten. Dennoch erlebte der jakobsweg nach dem zurückdrängen der Araber ab dem 11. jahrhundert einen unglaublichen boom. Santiago wurde nach Rom und Jerusalem zum bedeutensten christlichen wallfahrtsort. Die vielen pilger brachten mit dem wohlstand auch kulturellen aufschwung, von dem vor allem die architektur profitierte. Es wurde ja unermüdlich gebaut an brücken und wegen, kirchen und klöstern, burgen und hospizen. Dadurch dass händler und handwerker sich an diesem weg niederließen, klöster und städte gegründet wurden und immer mehr menschen über ihre erfahrungen und erlebnisse mit einander kommunizierten, trug der jakobsweg zur verbreitung und zum austausch der verschiedenen lebens- und kunstformen in mitteleuropa bei. Er wurde zum ‚kulturträger’3 und zur historisch bedeutsamsten route Europas, deren instandhaltung heute von der Europäischen Gemeinschaft mit hohem finanziellen aufwand unterstützt wird wie auch der unterhalt vieler an diesem weg liegenden sehenswürdigkeiten.

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1 vgl. http://darkrider.ask.fh-furtwangen.de{gert/radtour/tag7.html

2 vgl. K. Benesch, 1998, Seite 43 ff

3 vgl. T. Schroeder, 1999, S. 27