LEICHT SINNIG

 

ImageSonntag morgen steht vor dem hostel ein – sagen wir mal – rennrad. Für leute, die sich in der rennradler-terminologie auskennen, etwas genauer: ein Ridley-cross-rad, mit einem bandagierten und verbogenen alugepäck-träger, Campagnolo Veloce 9-fach ausstattung, Cinelli-vorbau und -lenker, um den eine schwere kette liegt, aufgeplatztem sattel und völlig abgenutzten bremsklötzen, die schon riefen in den felgen hinter lassen haben. Außerdem baumelt an dem verbeulten alu-oberrohr eine mit flick- und werkzeug voll gestopfte dreieckige rahmentasche, die auf der rechten seite einen mindestens 12 cm langen riss aufweist, aus dem der kettennieter herauszufallen droht.Kein zweifel – dieses rad kommt aus westeuropa. Wer damit bis Istanbul geradelt ist, muss ein ganz besonderer typ sein.
Im aufenthaltsraum des hostels sitzt ein kleiner braungebrannter mitzwanziger mit bärtchen und wuscheligen ungekämmten haaren, kurzer radhose, t-shirt und sandalen. Alles was er trägt ist pitsche- nass. Um ihn herum liegen weiter nasse klamotten: socken, wollpullover, regenjacke, mütze mit teddyfutter, ein cordura-rucksack und zwei schwere schwarze radtaschen mit der aufschritft „GUY ROMM.com“in weißen großen lettern. Seine website vermute ich. Die taschen sind wasserfest. Wenigstens ihr inhalt also wahrscheinlich trocken.
Vor sich auf dem kleinen tischchen surft er mit einem pc, wie ich ihn auch mit habe, im internet. Seiner ist allerdings schwarz. Er grüßt freundlich und fragt gleich, ob ich wisse, wie die städtische busverkehrsgesellschaft heißt. Zu seinem glück hat der hostelier am empfang einen busfahrplan mit verschiedenen telefonnummern.
Er telefoniert kurz draußen und radelt los, nicht ohne mich zu fragen, ob ich nachher mit ihm lunchen möchte. Ich zucke nur mit den achseln. Er sagt in zwei stunden wäre er wieder da.
Gegen 12 kommt er tatsächlich zurück mit halbhohen nassen radschuhen und fängt an zu erzählen: Die schuhe hat er im bus vergessen, als er heute nacht am istanbuler busterminal ausgestiegen ist. Auf den 15 km von dort bis zum hostel ist er dann nochmal klatschnass geworden. Vorher hat er bei Edirne aufgegeben gegen regen und wind auf dem weg von Bulgarien nach Istanbul, obwohl er sonst ein zäher hund zu sein scheint. Guy -früher Jevgeni- Romm. Israeli, programmierer mit geschiedenen eltern, jüdischer mutter und russischem vater, den er jetzt in dessen heimat am Ural besuchen will. Er wurde dort geboren und hat die ersten sechs jahre da gelebt. Englisch, russisch und hebro spricht er wie er meint fast gleich gut. Los geradelt ist er in Porto, weil er keinen westlicheren startplatz in Europa kannte. Go east, sei sein reisemotto. Karten hat er keine mit. Aber einen I-phone mit einigen navigations-sd-karten und einen kompass.
Portugal, dann zickzack durch Spanien, wie er sagt, Frankreich, Italien, Schweiz, waren der erste teil seiner reise. Dort liest er im internet von einem ingenieur, der in Chur besonders leistungsstarke mobile solarpaneele zum aufladen von handy und kamera herstellt. Guy ruft ihn an, radelt gleich hin und kauft so ein teil, dass er sich bei bedarf auf den rücken bindet und/oder auf sein gepäck.
Weiter nach bayern, dann Österreich, Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Immer allein, wenn er nicht gerade trampende mädchen auf die stange nimmt. Unglaublich leicht unterwegs: Außer den zwei taschen und dem rucksack am hinteren gepäckträger, bindet er nur noch die fette kette, und einen sack mit seinem kleinen ein-mann-zelt, seinem schlafsack und einer sog. fahrrad-garage in seinen renn-lenker. Er kann dann nur noch die oberen bremsgriffe oder die lenkerenden fassen. Die fahrradgarage brauchte er, um sein rad mit dem flieger von Tel-Aviv nach Porto zu befördern. Er packt das bike aber auch darin ein, wenn er es in den bus legen muss. Wenn er nur im schlafsack biwakiert, nimmt er sie auch als unterlage.
Beim essen erzählt er mehr über sich und seinen inneren konflikt zwischen russischer herkunft und irsraelischer erziehung. Er hat den kopf voller ideen für eine menschlichere multi-kulti gesellschaft, für eine vereinfachung der online-steurerklärungen in Israel, für ein liegerad mit integriertem schlafzelt. Aber er habe noch keine energie für deren verwirklichung. Erst müsse er sich selbst finden, meinte er. An dem punkt kann ich auch ein wenig mit reden. Zum schluss diskutieren wir über Herman Hesses Steppenwolf und Narziss und Goldmund. Einfach unglaublich, was dieser kerl alles gelesen und behalten hat. ‚Nein‘, sagt er, ‚ich war kein guter schüler. Meine mutter ist lehrerin. Sie hat mir die lust am schulischen lernen verdorben.‘ Aber im leben lerne er viel. Jetzt auf dieser großen reise.
Später im hostel näht er seine rahmentasche, wechselt die bremsklötze, die er noch schnell mit dem rad in der stadt besorgt hat, lehnt aber mein kettenöl dankend ab. Dabei vertritt er die näher zu betrachtende theorie, dass zu viel pflege, widerstandskraft von material und mensch schwäche. Darum tausche er auch den gebrochenen gepäckträger nicht aus. Dessen widerstand sei ihm jetzt bekannt und durch die bandage viel höher, als bei jedem neue träger. Als ich dazu nur den kopf schüttele, lacht er über mich und die immer alles berechnenden und planenden Deutschen. Mir 57jährigem gebe er mit seinen 26 keine ratschläge, meint er. Aber Markus und den anderen radlern im hostel rät er: „Take it easy!“ Und dann radelt er wieder los. Im regen. Richtung Trabzon ans Schwarze Meer, von wo er per internet schon eine fähre nach Sotchi gebucht hat. Nach Russland, dem land seiner väter. Ob er sich dort findet?

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