Marthas Velociped

Princess Maria, 03. 08. 2014

Mein letzter Tag in Petersburg. Mein Geld ist fast auf. Mit den restlichen 2100 Rubeln (45 €) kann ich weder noch einen Tag in der Stadt bleiben, noch traue ich mich, die Strecke bis zur finnischen Grenze mit dem Rad zu fahren. Wenn ich gut durchkäme, könnte ich es bis Vyborg schaffen an einem Tag Dort müsste ich dann eine Unterkunft finden, die ich mit der Visa-Karte bezahlen kann. Aber dann noch. Ich muss noch zweimal einkaufen  fürs Abendessen und das morgige Frühstück. Ich muss trinken. Zwischendurch brauche ich Obst oder was Süßes. Nein, das Risiko gehe ich nicht ein.

Bin vielleicht auch ein bisschen faul geworden, will  es mir mal wieder gemütlich machen. Ich nehme die Fähre nach Finnland. Der Fährhafen liegt auf der Wassiljewskij-Insel. Das ist heute ein ganz ruhiger Stadtteil merke ich als ich Sonntagmorgen das Ticket holen fahre. Velociped heißt ein Fahrrad in Russisch. Das hab ich schon in Kaliningrad im ‚Grenzbus‘ gelernt und das brauche ich jetzt wieder. Die 90 € für die Überfahrt in einer Kabine kann ich mit Visa zahlen. Heute Abend um 19.00 Uhr geht’s los. Einchecken ab 16.00 Uhr.Morgen früh um 8.00 Uhr bin ich in Helsinki.

Einen Tag hab ich also noch zum Ausklingen lassen, zum Abschied nehmen, allerdings mit dem ganzen Gepäck am Rad. Am Vormittag kann ich das Gepäck noch im Hostel lassen. Ich radle noch mal einfach drauf los. Ohne Ziel, ohne Reiseführer. Nur mal schauen. Noch einmal Eindrücke sammeln, nochmal Atmosphäre saugen.

An einem  Gebäude nahe dem Newski werfen junge Leute Münzen auf eine hoch in einer Ecke angebrachte Katzenfigur. Wenn die Münzen oben bleiben, hat man einen Wunsch frei. Nach meinem vierten Versuch, darf ich mir wünschen, dass die Reise so glücklich weiter läuft.

An einer Straßenecke stehen zwei aufklappbare große Holzkisten mit Büchern und Zeitschriften. Junge Leute  sitzen lesend vor, fast in den Kisten. Sie erklären mir, das sei eine Initiative des Buchhandels, der damit zum Lesen und Bücherkauf anregen will. Passanten  können  eine oder auch mehrere  Lektüren aussuchen,  Platz nehmen und lesen. Auch Kinderbücher und Comics sind in den Kisten ausgestellt.

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Am Gribojedow-Kanal  finde ich zufällig, die „Bankbrücke“. Vier  gusseiserne Löwen mit vergoldeten Flügeln halten die Brücke an Stahlseilen in ihren Mäulern.  Kinder versuchen die Figuren zu erklettern. Ihre besorgte Mutter erlaubt es nicht.

Die große Isaaks-Kathedrale mit dem hohen Turm und der weitsichtbaren goldenen Kuppel liegt in einem ruhigen Park. Ich zünde zwei Kerzen an und bete kurz.

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In  der sich anschließenden Grünanlage spielen Kinder auf bunten Holz-Spielgeräten, während ihre jungen Mütter bei  Kaffee aus Pappbechern ein Pläuschchen halten. 100m hinter ihnen  der „Eherne Reiter“  ein viel besuchtes Standbild, das den dynamischen Zaren Peter, den Gründer und Namensgeber der Stadt zeigt. Die Gruppe lauter chinesischer Besucher stört mich.

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Das Gepäck aus dem Hostel wieder am Rad überquere ich auf der Dworzowy-Brücke die Große  Newa, fotografiere noch mal die goldenen Türme der Peter Paul-Kathedrale auf der Petrograder-Insel.

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Dann biege ich ans Newa-Ufer ab. Ungestört radle ich  auf einem etwas höher als der Fluss liegenden Gehweg. Kreuzfahrtschiffe haben angelegt,  um Ihre Passagiere in Sightseeing- Busse umsteigen zu lassen. Auch ein U-Boot liegt hier.  Auf der anderen Straßenseite eine orthodoxe Kirche mit goldglänzenden Türmen und Kreuzen, die mit Goldfäden verwoben scheinen.

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Ein am Geländer abgestelltes hellblaues altes  Damenrad fällt mir auf. Ich stelle mein Rad daneben um zu fotografieren.

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Auf dem Grünstreifen zwischen Gehweg und Straße sitzen zwei junge Frauen mit Blick auf den Fluss. Eine kleinere mit kurzem Haar im Gras auf einer Decke zeichnet mit einem  schwarzen Stift auf einen kleinen Zeichenblock.  Die etwa größere, modischer gekleidete malt auf einem Hocker sitzend  mit Wasserfarben auf Aquarellpapier.  Ich schaue ihnen vom Gehweg aus zu. Die auf dem Hocker  fragt die  Zeichnerin immer wieder etwas zu ihrem Bild. Die gibt ihr dann Ratschläge, wie es scheint, zeigt auf das Schiff, dann auf das entstehende  Bild. Die etwas  frecher wirkende Malerin fragt mich nach kurzer Zeit, ob ich Englisch spräche. Ich gehe näher, antworte ein wenig unsicher. Jetzt sehe ich,  dass sie ein Aquarell des Schiffbugs malt und auch das Geländer,  an dem das Fahrrad lehnt. Ihre Aufgabe oder ihr Problem ist wohl, den Schatten richtig ins Bild zu bringen.

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Die kleinere scheint sie zu unterrichten. Sie zeichnet selbst auch das Fahrrad und dessen Schatten, aber in verschiedenen Versionen und Positionen. Ihre Zeichnungen haben was von einem Cartoon. Ich frage sie, ob das ihr Rad sei.  Sie nickt und lacht und fängt an zu erzählen, während die andere konzentriert weiter arbeitet an ihrem Aquarell.  Sie  hatte vor zwei Tagen Geburtstag.  Den hat sie mit einer Party in ihrer Schule gefeiert. Weil da mehr Platz sei als in Ihrer Wohnung. Sie habe mit zwei Freundinnen zusammen eine private Kunstschule für Erwachsene und hätten viele Schüler. Ihre Freundin  hier sei auch eine davon. Und zum Geburtstag habe sie dieses alte russische Damenrad geschenkt bekommen. Ihr erstes Rad in ihrem Leben. Und sie sei ganz vernarrt  in dieses Rad. Es sei hier auf der Wassiljewskij-Insel so praktisch, ein Rad zu haben. Jeden Morgen und jeden Abend sei auf den drei Brücken, die die Insel mit der Stadt verbinden,  ein furchtbarer Stau. Und sie könne jetzt  auf dem Weg zur Schule und zurück einfach daran vorbei  radeln. Aber ihr Freund müsse noch was am Hinterrad reparieren. Es  mache Geräusche. Als ich das Rad kurz anhebe und das Hinterrad drehe, höre ich das Lager krachen. Ich sage nur, sie habe recht, da müsse noch was repariert werden.

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Während sie nebenbei ihrer Schülerin weitere Tipps gibt, aber auch auf ihrem  eignen Block zeichnet, erzählt Marta weiter. So heißt sie, habe ich inzwischen gehört. Weiter von Ihrer Party. Nicht ihrer Freundin sondern uns, denn sie erzählt auf Englisch. Die andere, deren Name ich nicht verstehe, malt und korrigiert zielstrebig den Schatten der beiden Laufräder auf dem Gehweg. Scheint nicht so einfach. Ich hab mich inzwischen an einen Baumstamm gelehnt auch ins Gras gesetzt. Auf der Party seien die Jungs nachts aus dem Fenster gestiegen,  unerlaubter Weise aufs ungesicherte Flachdach geklettert, weil es so heiß war. Die seien  so besoffen gewesen. Sie hätte solche Angst gehabt. Während sie erzählt, kritzelt sie weiter auf ihrem Block, den ich seit ich sitze,  nicht mehr einsehen kann. Zwischendurch weist sie ihre Schülerin wieder auf Kleinigkeiten hin. Dann reden sie Russisch.

Die Malende fragt nach meiner Route, nach anderen Reisen, nach meinem Beruf, Familie usw. Sie selbst hat mit ihren Eltern sieben Jahre in Athen gelebt und später als Studentin ein Jahr in Teheran. Marta  erzählt, dass sie Nida auch so schön fände, fünf Jahre in Vilnius studiert habe, weil ihr das Studium in Russland speziell in Sankt Petersburg antiquiert und zu wenig experimentell gewesen sei.  Danach habe sie noch ein Semester in einer dänischen Kleinstadt dran gehängt. Dort habe sie an einer bekannte Kunst-Hochschule einen russischen Dozenten aus Sankt Petersburg gehabt, der es hier auch nicht ausgehalten habe.  Als Studentin sei sie viel gereist. Italien und Amsterdam hätten ihr besonders gut gefallen. Sie scheint auch wirklich was zu können. An einem Kongress professioneller Illustratoren in Bologna 2010, zu dem 3000 Bewerber ihre Arbeiten eingesandt hatten, war sie eine der 70 auserwählten. An einem Workshop für Lithographie in München, zu dem man eingeladen werden musste, durfte sie im darauffolgenden Jahr teilnehmen. Sie gibt nicht an, erzählt aber voller Selbstbewusstsein. Ihre Schülerin zeigt dabei auch mehrfach mit ihrer Mimik, dass sie auch viel von  Marta hält.

Schließlich ist das Aquarell fertig. Die Schülerin schaut auf die Uhr. Sie muss gehen. Sie ist mit dem Auto da und hat ihre Malsachen und Hocker und Decke mitgebracht. Marta  sagt zu mir, sie müsse zwar unbedingt mit den Illustrationen zu einem Kinderbuch anfangen, aber heute an einem so warmen  Sonntag hätte sie keine Lust dazu. Sie habe noch nicht gefrühstückt und noch etwas Zeit. Wenn ich noch Zeit hätte, würde sie mir ein Bistro zeigen, wo wir eine Kleinigkeit essen könnten.  Inzwischen hat die Freundin alles ins Auto gebracht. Sie verabschiedet sich freundlich  und wünscht mir eine gute Reise.

Marta nimmt ihr Rad, steigt aber nicht auf. Sie führt ihr Rad. Ich laufe hinter ihr her.  Ich habe das Gefühl, dass sie sich nicht zu fahren traut oder schämt. Wegen der krachenden  Nabe vielleicht? Oder weil sie vielleicht selbst nicht sicher Rad fährt?  Drei Straßen weiter schließt sie mit langer Kette und schwerem Vorhängeschloss, die sie in der Satteltasche mitführt, unsere beiden Räder an einem Baum. Wir gehen in ein einfaches Selbstbedienungsrestaurant. Sie nimmt eine Tagtasche und Möhrensalat, ich „Kapusta“  (Kohlrouladen) mit Bratkartoffelspalten und Krautsalat. Wir trinken einen roten Saft, den ich nicht identifizieren kann.

Beim Essen  erzählt Marta von ihren Eltern und ihrem Leben in Sankt Petersburg. Für sie die schönste Stadt der Welt. Vater Fotograf aus der Ukraine, Mutter aus Litauen. Vater sehr traditionell, immer nur in und  um Sankt Petersburg arbeitend. Die Mutter viel weltoffener, moderner reise gerne. Sie kaufe zum Beispiel gerne im secondhand-Laden Kleider, die sie in Sankt Petersburg sich nicht zu tragen wagt.  Aber in Spanien oder Italien genießt sie es, als ältere Frau, noch decolletierte oder schulterfreie Kleider zu tragen.

Das ist eins der vielen Dinge, die Marta an Sankt Petersburg  zu kritisieren hat. Das konservate  und  steife Denken der wohlhabenden und mächtigen Gesellschaft Petersburgs. Frauen ab 45 oder 50 ließen sich behandeln wie alte Großmütter. Sie geben sich auf, sagt Marta. Ihre Männer verfestigen diese Haltung, weil sie nur nach jüngeren Frauen Ausschau halten. Sie beklagt auch die aufreizende Kleidung vieler junger russischer Mädchen und Frauen. „Bad taste“, nennt sie das. Und lächerlich findet sie, dass so viele Frauen sogar im Winter  mit superkurzen Minis und high heals durch Schnee und Eis stöckeln. Sie und ihre Freunde schämen sich fremd, wenn sie solche Frauen und deren oft viel trinkenden Männer im Ausland  treffen. Als ich ihr sage, dass es vielen deutschen Urlaubern nicht anders geht, sagt sie, sie habe davon gehört, wie Deutsche auf Mallorca Party feiern. Ist sie doch ein wenig spießig? Aber als sie von der Homophobie in Russland, vom altmodischen Erziehungsstil in Schulen und Familien, von den  schlechten Wohnverhältnissen für  Hunderttausende in Sankt Petersburg, von der miserablen Volksgesundheit spricht, spüre ich, wie kritisch sie der russischen Gesellschaft gegenüber eingestellt ist. Sie betont dabei mehrfach, dass sie sich in der Öffentlichkeit und auch gegenüber vielen erwachsenen Schülerinnen nie so äußern würde. Auch ihre Freunde würden das möglichst vermeiden.

Wir haben längst aufgegessen. Tee trinkt sie noch. Ich einen Kaffee. Langsam werde ich ungeduldig. Es ist schon fast drei. Ich will doch mit den ersten einchecken. Sie merkt das und beruhigt mich. Bis zum Hafen sei es gar nicht weit. Ich weiß das. Ich war ja schon da. Wir bezahlen und gehen. Marta  begleitet mich noch bis zum  Fährhafen,  das Rad wieder an der Hand.  Ich radle langsam neben ihr her den langen Bolschoi-Prospekt entlang, auf dem jetzt am frühen Sonntag-Nachmittag kaum was los ist.

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Neben dem Fährhafen gäbe es einen kleinen älteren Hafen, den sie mir zeigen möchte. Dort würde sie abends gelegentlich mit ihrem Freund den Sonnenuntergang genießen. Mir gefällt die Ruhe an diesem Becken auch. Aber ich habe keine Ruhe mehr in mir. Ich reiche ihr die Hand. Sie winkt ab, holt erst  ihren kleinen Zeichenblock aus der Handtasche und reißt zwei Blätter raus. Eins mit den Zeichnungen ihres Rades und eins mit meinem Rad und mir an den Baum gelehnt im Gras sitzend.

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Ich bin ganz gerührt. Sie schreibt noch ihre Mailadresse hinten drauf und signiert die Blättchen: Marta Zuravskaja. Wir umarmen uns. Dann steigt sie wirklich auf und fährt winkend davon. Umschauen kann sie nicht, glaube ich. Ein besondere Sonntag-Mittag in Petersburg, mit einem besonderen Menschen. Martas Freundin hat vorhin bezogen auf mein Alter und meine Gesundheit gesagt:„ You are a lucky man!“ Das denk ich jetzt auch.