MEER WERT

Nach einer ziemlich harmlosen abfahrt auf der alten national-straße sehe ich endlich gar nicht so weit unter mir das mittelmeer. Solch ein glücksgefühl habe ich erst in wenigen radmomenten gespürt. Alleine mit dem rad von zuhause ans mittelmeer! 1560 km und 17 tage habe ich dafür gebraucht. Na ja, ein rekord ergebnis ist das nicht. Aber ich habe meine zweites etappenziel erreicht.

Opatja ist einer der schönsten küstenorte hier auf der nordost seite Istriens. Dort hätte ich bleiben und dann weiter nach süden fahren sollen, um dann nach Cres überzusetzen. So hat Markus das geplant.

Aber ich will unbedingt mal Krk sehen. Diese kreuzworträtsel-insel, die schon in den 70er jahren von kollegen, die dort urlaubten, so gelobt wurde. Um aber über die brücken nach Krk zu kommen, muss ich erst durch Rijeka hindurch und um die bucht von Bakarac herum. Auf der strecke folgt eine werft der anderen, ein dreckiges hafenviertel dem andern. Zum schluss versperrt auch noch der gelbe schwefelqualm der Ina raffinerie den blick auf die bucht mit den inselbrücken.

Stoßstange an stoßstange schleichen die autos am nachmittag zur rushhour auf die autobahn zu, die hier hoch oberhalb der stadt endet. Auf der völlig verstopften küstenstraße, die sich mehrmals von meereshöhe auf über 300 m hochzieht und um die bucht herumführt, hole ich mir eine abgasration, die für den august reicht.

Was bin ich doch für ein trottel! Warum strampele ich hier rauf und runter in dieser vergifteten luft? Ich läge hinter Opaija längst in meinem zelt oder hätte sogar noch eine fähre nach Cres erreicht.

Stattdessen will ich Krk sehen. In der hitze bei dem stinkenden verkehr und dem ewigen auf und ab komme ich nicht mehr von der stelle, je später es wird. Ich ärgere mich furchtbar über diese unnötigen und unerfreulichen km. Sie sind auch noch gefährlich. Bergauf überholen mich drängelnde autofahrer an unübersichtlichen stellen. Bergab rolle ich rechts an dem stop and go verkehr vorbei, werde aber oft nicht wahrgenommen. Ich bin stets in gefahr, an den rechten straßenrand gedrückt zu werden. Das heißt hier gegen eine verrostete leitplanke oder ins meer – je nachdem zwischen 10 und 60 m tiefer als die straße.

Und dann komme ich gegen halb sieben nach Bakarac. Welch ein ursprüngliches örtchen! Ein hotel gibt’s und ein restaurant, eine eisdiele, ein café an der straße, einen market im orstkern nahe der kleinen kirche, die wie auch alle anderen häuser an einer sackgasse liegt. Denn man kann durch Bakarac nur auf der einen viel befahrenen küstenstraße hindurch. Doch der verkehr stört die menschen hier nicht. Damit lebt man. Ungestört geht man gleich neben der straße ins meer. Badet in der engen bucht oder in der sonne, sozusagen auf dem bürgersteig der meerseitigen fahrbahn. Zudem gibt’s noch einige schmale betonierte stege, an denen die fischerboote oder die wenigen privaten motorboote anlegen, die jetzt aber von sonnenbadenden belegt sind.

Gäste oder einheimische, das kann ich hier nicht unterscheiden. Aber die atmosphäre ist familiär. Niemand macht auf dicke hose, niemand ist chick! Alle in shorts und badelatschen. Ein paar ältere sitzen oder liegen auf den warmen steinplatten, brauchen nicht mal ein handtuch. Andere sitzen vor dem cafe, die ausgestreckten beine auf der straße. Diese völlig gelassene art, ihre schöne bucht zu genießen, egal wie viele autos durch fahren, das gefällt mir. Ich bleibe.
Diese gelassenheit zu erleben, ist mir mehr wert als das erreichen der insel.

Das hotel ist mir zu teuer. Ich radele durch den ort – sind ja nur drei straßen. Kein hinweis, kein schild auf irgendein zimmer. Wild zelten – dazu ist hier kein platz. Ich frage im market nach. Die verkäuferin schickt mich zum restaurant. Angeblich kann man dort auch zimmer mieten. Der junge wirt bestätigt das. Aber sein haus ist belegt. Er hängt sich gleich ans telefon. Außer mir sind keine gäste im lokal. Doch die zimmer seiner bekannten sind anscheinend auch belegt. Entweder ist den vermietern meine einzelne übernachtung nicht genug oder Bakarac ist noch mehr tagesgästen wert, hier zu übernachten.

Schließlich gibt der wirt mir den tipp mal in der eisdiele zu fragen. Der eisverkäufer malt mir auf einen zettel auf, wie ich zu Maria Tian finden kann. Maria Tian ist 75, noch sehr rüstig und noch geschäftstüchtiger. Für 20 € vermietet sie mir ein hinterzimmer im ersten stock mit wc und duschbad im erdgeschoss. Als ich mit Kuna bezahle, errechnet sie – schneller als ich – mit einem für sie sehr günstigen wechselkurs, die miete in landeswährung.

WC und bad nutzen auch anderen gäste, sofern denn noch welche kommen. Von frühstück hat sie gar nicht gesprochen. Ich nehme mal zu meinen gunsten an, dass ich morgen früh was bekomme. Allerdings sehe ich keinen raum, in dem frühstücken möglich wäre. Außer in Marias küche, in der an einem tisch platz für zwei wäre.

Sie erklärt mir – für den fall, dass noch gäste für das meinem zimmer vorgelegene doppelzimmer kämen – dass ich die zimmertüre dann geschlossen halten und vom treppenhaus über den balkon in mein zimmer gelangen muss. Tatsächlich kommt noch eine familie aus der Slowakei. Aber die bringt sie im erdgeschoss-doppelzimmer unter – das früher ihr wohnzimmer gewesen zu sein scheint. Mir ist es recht so.

Statt Marias muffiges bad zu benutzen, schwimme ich im meer und dusche anschließend an der frischwasserdusche auf der betonfläche gleich neben dem zebrastreifen. Ich bin nicht der einzige, der sich dort tüchtig einseift und ausgiebig abduscht. Niemanden stört das hier. Zimmer mit meerbad, das ist doch mehr wert als jede hotel-nass-zelle.

Zum abendessen gehe ich zu dem jungen freundichen wirt, der mich nur fragt, ob ich fleisch oder fisch essen möchte.Als ich fisch bestelle, geht er und bringt mir 15 minuten später einen so leckeren heilbutt, wie ich ihn noch nie gegessen habe. Mit gebratenen kartoffeln, tomaten und auberginen. Der fisch kostet 50 Kuna, das sind ca. 7 €, und ist sicherlich mehr wert.

Auf dem weg zurück zum zimmer gehe ich in der eisdiele vorbei und trinke einen espresso. Dabei berichte ich dem inhaber, dass sein zimmertipp goldrichtig war. Er lacht und lädt mich prompt ein, morgen früh bei ihm zu frühstücken. Er habe schon ab 6 Uhr auf. Also gibt’s bei Maria nicht mal frühstück für 20 €, denke ich.

Weit gefehlt: Um halb sieben zieht schon kaffeeduft durch Marias haus. Als ich runter muss zur toilette, gibt Maria mir frische handtücher und ein stück seife und bittet mich zu duschen. Ich lehne dankend ab. Wegen der hitze möchte ich schon früh los fahren, erkläre ich ihr. Ich wasch mich nur am becken. Dann lädt sie mich zum frühstück an den kleinen küchentisch ein. „Nix geld“ betont sie. Wäre ja auch noch doller! In einer stilpfanne hat sie mir sicherlich dreiviertel liter filterkaffee aufgebrüht. Dazu gibt’s weißbrot bis zum abwinken, butter – die ich sowieso nicht nehme – und von ihr selbst gekochtes apfel-birnen-kraut. So ein frühstück entspricht zwar nicht den neuesten ernährungs- wissenschaftlichen erkenntnissen im radsport. Aber es ist mir mehr wert als manches hotelfrühstück.

Vor allem wegen meiner amüsanten gesprächspartmerin. Sie setzt sich zu mir und fragt mich aus. Ich will ihr nicht zu viel erzählen, weil das in unserem mehrsprachigen kauderwelsch ziemlich anstrengend ist. Stattdessen zeige ich ihr fotos von Elvira, den beiden mädchen, meiner mutter und meiner klasse. Sie ist ganz begeistert. Ein paar bilder sind in der zwischen-menschlichen kommunikation oft mehr wert als viele worte.

Schließlich sieht sie beim bezahlen mein kreuz am brustbeutel. Sie fragt, ob ich katholisch sei. Als ich das bejahe, lädt sie mich ein, sie zur kirche zu begleiten. Heute sei nämlich Maria Empfängnis. Da hätten sie in Bakarac eine messe. Als ich zustimme, freut sie sich, fegt sich schnell mit einer bürste durch die haare und zieht schuhe an. Sie geht noch recht flott. Vor der kirchentür lässt sie mich einfach stehen. Was mir lieb ist. Dennoch bleibe ich bis zum ende und gehe auch mit ihr nach hause.

Dass ich es fast eine stunde in der messe aushalte, nehme ich schon als beweis dafür, dass ich lerne, mir zeit zu nehmen, wenn ich auch eigentlich etwas anderes vor habe. Solche geduldsproben will ich in dem jahr bestehen lernen. Diese erfahrung ist mir heute morgen auch ganz viel wert. Außerdem habe ich auf der bisherigen reise schon so viel unterstützung und schutz „von oben“ erfahren. Da kann ich sicherlich mal andächtiger dank sagen, als ich das sonst im vorbeifahren an wegkreuzen oder kapellchen mache.

Zum abschied küsst Maria mich in der haustür. „Dowidenja!“ Als sie das schwere rad mit mir aus der tür heben will, schlägt sie die hände über den kopf zusammen und sagt kopfschütteld: „Jesus, Maria!“