Mit rückenwind in die Maragateria

Sonntag, 16. Juli: El Burgo Ranero – Rabanal

16. etappe: El Burgo Raneros – Rabanal 125 km  21,0 km/h  insg. 2085 km

Ab 5.00 uhr schleichen die fußpilger durch das refugio. Da ich ohnehin zu hart liege und noch das komplette gepäck verstauen muss, – weil ich mein rad draußen abstellen musste, habe ich alles runter geholt – stehe ich schon um halb sechs auf. Das wetter scheint heute wieder toll zu werden. Vor allem hat der wind sich gedreht. Die sonne, unter der einige pilger stöhnen, hat mir bisher nichts ausgemacht. Ich fahre gerne in der sommerhitze, denn der fahrtwind kühlt doch immer noch angenehm ab. Ich muss halt nur genügend flüssigkeit zuführen. Besonders heute! Denn heute geht es weiter durch die Meseta, dann über die Montes de Leon und zum schluss in die Maragateria, eine über 1000 m hohe teils wilde, teils sehr fruchtbare hochebene.

Zum frühstück in der herberge trinke ich wieder mal nescafé, denn nach der miesen nacht brauche ich etwas zum aufmuntern. Allmählich haben die letzten fußpilger das haus verlassen. Der angehende priester aber macht noch keine anstalten zu gehen. Auch die Polen sind mittlerweile wach, trödeln aber herum und scheinen sich unheimlich viel zeit zu lassen. Ich sage ihnen, dass ich bald los fahren möchte. Marek meint, dass wir uns dann vielleicht heute noch in Leon oder später in Astorga treffen könnten, denn sie wollen heute wieder über die nationalstraßen fahren und mindestens 90 kilometer schaffen. Sie hängen ihrem zeitplan nämlich ein wenig hinterher, weil sie am 1. august in Fatima sein müssen, um noch rechtzeitig vor schulbeginn in Polen zurück zu sein. Denn nur solange hat ihnen der zuständige bischof urlaub gewährt.

Als ich mich schon nach draußen begebe, kommt Brunek zu mir und lädt mich ein, mit ihnen die messe zu feiern. Das tun sie anscheinend jeden morgen in den herbergen. Ich begreife nur nicht, warum sie so lange damit warten, bis fast niemand mehr da ist. Nur der Münsteraner hat wohl so etwas geahnt und fragt mich, ob er richtig gehört habe, dass die Polen eine messe feiern und ob er wohl daran teilnehmen könnte. Als er Brunek fragt, ist er natürlich auch herzlich eingeladen. Der priesterschüler ist genau wie ich mehr als erstaunt über den aufwand den die Danziger betreiben. Vielleicht weil heute sonntag ist? Sie holen aus dem auto ihre zerknüllten alben und die gefalteten messgewänder, decken den tisch komplett als altar und zelebrieren eine feierliche messe mit viel gesang, an der auch die beiden autofahrer beteiligt werden mit dem vorlesen der fürbitten und der lesung. Insgesamt dauert die feier 55 minuten, in denen ich mehrfach gerührt den tränen nahe bin, aber auch mehrmals auf die uhr schaue, weil es mittlerweile schon halb neun ist. Na ja – die rechte pilgergesinnung hat den radsportler in mir auch nach 15 tagen  noch nicht überwältigt.

Kurz vor neun werde ich herzlich verabschiedet von den Danzigern und verabrede mich mit den beiden autofahrern an der kathedrale von Leon. Dass ich dort auch noch auf die radler warte, glaube ich  nicht, denn sie frühstücken jetzt erst und fahren etwas langsamer als ich.

Ich entscheide mich gleich hinter El Burgo gegen den schotterpfad, der immerhin noch 19 km weiter führt bis Mansilla de las Mulas. Ich radle lieber über zunächst kleine verbindungsstraßen bis zur N 601 und fliege dann auf der am sonntgmorgen fast leeren nationalstraße nach Mansilla de las Mulas. Hier kann ich schon geld ziehen. Für die reste der alten stadtmauer und der Puerta de Santiago habe ich nicht mal ein foto übrig, weil ich weiter will. Bis Leon sind es nur noch gut 15 kilometer, die ich auf dem großen kettenblatt zurück lege.

Nach 44 km bin ich schon vor 11 uhr im zentrum der 150.000 einwohner zählenden provinzhauptstadt. Leons zentrum ist auch am sonntag morgen lebhaft, attraktiv und voller freundlicher leute, von denen viele gerade aus dem hochamt kommen.

Die stadt hat eine reiche geschichte und dementsprechend viele sehenswürdigkeiten. Aber alles wird überragt von der ‚Catedral Santa Maria de la Regla‘. „Und inmitten all dieses niederen und kleinen die Kathedrale, ganz ruhig und still, eine Erinnerung“[1]. So schildert Nooteboom seinen eindruck von dieser schönsten frühgotischen kirche Spaniens. Man sieht sofort, dass ihr baumeister Franzose war und sich stark an den kathedralen von Reims, Chartres oder Amiens orientiert hat. Wieder ist die westfassade mit ihren beiden ungleich hohen türmen am prächtigsten ausgestattet: drei portale, von denen das mittlere das jüngste gericht darstellt, und die freundliche Madonna la Blanca an der mittelsäule sowie die jakobsfigur im rechten teil des hauptportals sind besonders schmuckvoll.

Im innern der kirche fallen besonders die lichteffekte auf, die bei dem heutigen sonnenschein durch die 1800 qm buntglasfenster erzeugt werden. Sie scheinen mir noch farbenprächtiger als die fenster in der kathedrale von Bourges, was wohl auf die stärkere sonneneinstrahlung zurückzuführen ist.

Nach dem besuch der kirche genehmige ich mir mein zweites frühstück in der wärmenden sonne vor einem netten viel besuchten café in der fußgängerzone mit blick auf die kathedrale. Und während ich mehrere brötchen, teilchen und eine großen becher kakao verdrücke, schlendern Peter und Jacek vorbei, die beiden polnischen autobegleiter. Gleich setzen sie sich zu mir. Essen oder trinken wollen sie nichts. Von der kathedrale sind sie genauso begeistert wie ich. Jetzt wollen sie noch ein wenig shoppen. Wir verabschieden uns in dem sicheren gefühl uns auf dem camino bestimmt nochmal wieder zu sehen. Danach besuche ich in der verwinkelten charmanten altstadt die basilika San Isidoro, die als ursprünglich frühromanische kirche aus dem 12. jahrhundert ähnlichkeit hat mit San Martin in Fromista. Bekannt ist sie vor allem wegen der königsgruft in der 23 spanische könige ruhen und der prachtvollen deckenbemalung, weswegen sie auch „Sixtinische Kapelle der spanischen Romanik“ genannt wird. Weiter fahre ich dann durch die stadt richtung westen und komme am ufer des Rio Bernesga zum Hostal de San Marco. Das ehemalige kloster, das in der heutigen form im 16. jahrhundert vom ‚Orden des hl. Jakob vom Schwert‘ erbaut wurde, war eines der bedeutesten pilgerhospize. Heute ist es zusammen mit dem ‚Reyes Catolicos‘ in Compostela das eleganteste und ehrwürdigste Parador-hotel Spaniens. Nooteboom erklärt es gar zum schönsten hotel Europas[2].

Wie immer habe ich probleme aus der stadt heraus zu finden richtung Astorga. Aber ein freundlicher rennradler begleitet mich bis zur stadtgrenze. Ich halte sein hinterrad locker – auch wenn’s berghoch geht. Als er nicht schlecht über mein tempo staunt, freue ich mich heimlich. Zum abschied meint er dann, flamen seien doch harte burschen, woran ich erkenne, dass er mich doch nicht richtig verstanden hat, als ich ihm in einem französisch-englisch-spanischen kauderwelsch erklären musste, woher ich komme.

Weil die besichtigungen so viel zeit gekostet haben, möchte ich jetzt wieder los legen und so schnell wie möglich nach Astorga kommen. Aber zeit für ein weiteres storchenfoto muss sein, den immer noch bin ich in Kastilien – nicht nur das land der kastelle und das land der felder, sondern auch das land der störche, wobei mir bisher niemand erklären konnte, wieso Meister Adebar in diesem landstrich so häufig siedelt. Dass er auch von hier noch ins winterquartier nach Afrika fliegt, ist bei über dreißig grad im schatten – die ich an einer bank in Leon abgelesen habe –  kaum zu glauben.

Zum glück bleibt der wind auch westlich von Leon in meinem vorteil und die N 120, auf der ich jetzt wieder radle, am sonntag nachmittag recht ruhig und auch recht flach. Aber die Montes de Leon kündigen sich am horizont schon an.

Kurz nach drei uhr bin ich in Astorga (80 km habe ich dann insgesamt zurückgelegt). Dieses sehenswerte städtchen geht auf die römische gründung ‚asturica augusta‘ zurück. Zwei herausragende bauwerke schaue ich mir an. Zunächst die kathedrale ‚Santa Maria‘ aus dem 15 jahrhundert, die ganz unterschiedliche stilrichtungen aufweist: üppiger barock an der fassade, drei portale im plateresken stil, gotisch im innern. In einem ihrer seitenschiffe und dem angebauten kreuzgang findet in diesem jahr eine lohnenswerte ausstellung ‚cruz en cijadas‘ (kreuzwege) statt, durch die ich wegen meines nicht gesicherten gepäcks auf dem rad hindurch hetze. Schade, denn die ausstellung zeigt unglaublich reich verzierte goldene und silberne kreuze, gemälde und skulputren spanischer meister.

Dann besichtige ich gleich neben der kathedrale den bischofsplalast, den der durch das gleichnamige musical der allgemeinheit bekannt gewordene archtiket Gaudi entworfen hat. Mir sagt sein verspielter, amüsant wirkender modernismus nichts. Jetzt da ich den palast vor augen habe, fällt mir ein, dass ich heute morgen in Leon an einer ähnlichen fassade vorbeigefahren bin und gedacht habe: „Wie häßlich, dieser kitsch.“ Und nun bin ich sicher, dass dieses gebäude von Gaudi stammt. Als ich nachschlage sehe ich, dass es wahrscheinlich die ’neugotische Casa de Botines‘ war, die tatsächlich von dem „genialen katalanischen architekten“[3] entworfen wurde. Auch über architekten-genies lässt sich streiten. Geschmäcker sind nun mal verschieden.

In einer bar läuft die tv-übertragung der Touretappe in den Alpen. Aber bei einer cola sehe ich, dass die profis noch mindestens zwei stunden strampeln müssen und zwr fast nur bergauf. Da fahre ich lieber weiter, denn auch ich werde die letzten 20 km bis in mein heutiges etappenziel Rabanal viel klettern müssen.

Die Maragateria ist eine bergige region über 1000 meter hoch gelegen umgeben von bergen wie dem 2185 m hohen Telemo. Eine gegend mit etwa 30 kleinen dörfern, in denen die Maragatos leben, ein völkchen mit eigenen sitten und gebräuchen, das jahrhunderte lang nur unter sich heiratete. Bis heute weiß man nicht genau, ob die Maragatos nachkommen sind der sweben, der berber oder von juden in einer frühen diaspora abstammen[4].

Hier sieht man auch auf den hügeln, die eine gute fernsicht bieten, keine häuser, keine andere straße als die, auf der man fährt, und außer pilgern wieder keine menschen. Der camino läuft parallel zur landstraße 142 durch diese einsame region, die mich mit ihren grünen abgerundeten bergen an die Auvergne erinnert, aber in ihrer kargheit auch an das irische hochland. Fußpilger sehe ich jetzt noch häufiger als in der Meseta. Denn hier beginnt die schönste wanderstrecke des camino. Außerdem nimmt – je näher man Compostela kommt – die zahl der pilger zu, weil die meisten traditioneller weise die letzten 200 kilometer zu fuß pilgern, denn dann erhalten sie den vollkommenen ablass. Zwar spielt der sündennachlass heute nur noch eine untergeordnete rolle, aber die 200 kilometermarke bleibt doch viel beachtet. Und von hier aus sind es etwa noch 250 km bis Compostela.

Das erste dorf, das ich in der Maragateria passiere, ist das noch vollkommen mittelalterlich erhaltenene Castrillo de Polvazares, das komplett denkmal geschützt ist. Naturstein-pflaster und traditionelle steinhäuser kennzeichnen dieses Dorf. Außer einigen bunten fensterläden herrscht im ort nur eine farbe: okerbraun. Ungewöhnlich für dieses verlassene gebiet sind nur die vier autos, die auf dem parkplatz am ortseingang stehen. Allmählich regt sich halt auch hier der fremdenverkehr.

Nach El Ganso steigt es angenehm an. Das dorf ist ein piepkleines örtchen, in dem sich einige der bauern mit dem verkauf von selbstgeschnitzen pilgerstöcken, kürbisflaschen und anderen pilgeruntensilien ein zubrot verdienen. Zwei ganz moderne gefederte mountainbikes stehen vor der einzigen wirtschaft, die in einem strohgedeckten innenhof eines kleinen gehöftes eingerichtet ist. So ein lokal müsste man fotografieren. Aber ich traue mich nicht, weil ich nicht weiß, ob der wirt nicht doch registrieren würde, dass ich sein lokal wegen der ärmlichen ausstattung ablichte. Außer uns drei radlern kommt noch ein älteres ehepaar auf ein gläschen roten rein: bäuerlich wirkende, schwarzhaarige menschen von kleiner statur mit brauner gegärbter haut und vielen furchen, ärmlich gekleidet: Sie – außer der blauweiß karierten schürze – ganz in schwarz; er auf holzschuhen und mit einem strohhut, den er nicht abnimmt. Die beiden spanischen radler schauen – genau wie ich das jetzt möchte – das tourfinale.

Auch ich bin fast am heutigen ziel, denn nach weiteren sieben kilometern erreiche ich Rabanal. Ein kleines bergdorf in 1150 m höhe, das nur aus etwa hundert häusern besteht, die alle an einer stark ansteigenden straße liegen. In der noch warmen sonne verbringen viele menschen – meist pilger – den abend auf der straße vor den häusern oder in den angrenzenden gärten. Überall unterhalten sich menschen, kaufen noch ein, suchen einen schlafplatz oder ein gutes abendessen.

Gleich am ortseingang liegt ein refugio. Aber im ort gibt es mehrere – kirchlich-, gemeindlich- und privat betriebene. Alle sind ziemlich voll. Eine junge Deutsche am empfang einer sehr alternativ wirkenden herberge lädt mich ein, mich um zu schauen, was ich auch gerne tue. Mir sind die aufmachung und die haltung vieler junger leute in diesem haus aber zu esoterisch. Es wirkt unecht, aufgesetzt auf mich, wie ich hier junge leute im kreis meditieren sehe.

Nach kurzer suche ziehe ich ein gut bürgerliches hostal vor, auch wenn ich hier etwas mehr für die übernachtung zahlen muss. Ich bin und bleibe halt ein spießer aus dem Selfkant. In dem hostal finde ich wesentlich angenehmere gesellschaft. Vor dem gasthof sprechen mich einige freundliche belgier einer insgesamt zwölfköpfigen fußpilgergruppe aus der nähe von Brüssel an, die von Astorga aus gestartet sind und in etwa zehn tagen bis Compostela wandern wollen. Auf einem mauervorsprung neben der herberge sitzen drei junge ehepaare aus Turin, von denen mich der am sportlichsten aussehende macho-typ gleich in fünf sprachen anspricht, um mir zu verstehen zu geben, dass ich egal in welcher sprache mit ihnen reden könne. Nachdem ich dem angeber auf seine fragen nur sehr kurz angebunden geantwortet habe, erzählt er, er sei leidenschaftlicher mountainbiker und wäre deshalb den camino auch gerne geradelt. Aber seine frau wollte unbedingt in der gruppe wandern. Die anderen fünf – vor allem seine frau – wirken neben diesem schwätzer äußerst zurückhaltend, aber freundlich. Auch als wir später im lokal zusammen essen, ist die hübsche junge frau, die zwar sehr wenig sagt, aber ziemlich gut deutsch spricht, mir besonders sympathisch. Sie scheint sehr gläubig zu sein und die treibende kraft in der entscheidung, den diesjährigen sommerurlaub der sechs freunde auf der pilgerschaft nach Santiago de Compostela zu verbringen. Ihren mann scheint sie trotz oder geraden wegen seines (vor-)lauten und aufdringlichen wesens anzuhimmeln, während die anderen ihn schon mal ein wenig kritisieren oder veralbern.

Noch vor dem etwas zu sehr auf touristen abgestimmten menu, das keine 15 DM inclusive getränke kostet, halte ich nach fast einer woche wieder mal große wäsche. Denn meine trikots und radhosen riechen unangenehm. Genau vor meinem zimmerfenster habe ich eine fast leere wäscheleine mit vielen klammern entdeckt und auf dem zimmer ist ein ordentliches duschbecken mit fließend heißem wasser. Das muss ich ausnutzen.

Nach dem essen gehe ich nochmals raus auf die straße, deren steine nach sonnenuntergang eine unglaubliche wärme abgeben an alle, die hier draußen sitzen, erlebnisse und eindrücke des tages austauschen oder ihre planungen und erwartungen für den nächsten tag miteinander besprechen. Viele versuchen genau wie ich per handy zu telefonieren. Aber trotz der höhenlage kommt hier keine verbindung zustande. Die Maragateria ist halt ein einsamer, rückständiger landstrich. Die fahrt hierhin war aber eine der schönsten meiner tour und dafür danke ich dem lieben gott ganz besonders. Morgen steht meine vorletzte etappe an. Ich kann nur hoffen, dass sie genauso eindrucksvoll verläuft.

[1] C. Nooteboom, 1996, S. 251

[2] vgl. C. Nooteboom,1996, S. 267

[3] T. Schröder, 1999, S. 203

[4] vgl. T.Schröder, 1999, S. 205