Mitten drin

St. Petersburg, 03. 08. 2014

Zum Newski-Prospekt brauche ich nur eine breite Querstraße zu gehen. Sie ist autofrei. Café- oder Restaurant-Terrassen reihen sich rechts aneinander, in der Mitte noch eine mit Planen überspannte weitere Gastronomie-Zeile. Am Kopfende der Straße Granitbänke um ein Wasserspiel, an dem in diesen hochsommerlichen Tagen immer wieder Familien mit Kindern eine  erfrischende Pause einlegen. Dann noch 10 Schritte und ich bin auf dem Pracht-Boulevard.  Ich wohne wirklich da, „wo das Herz Sankt Petersburgs schlägt“. So hochtrabend steht es zumindest in Müllers Reiseführer!

Nicht so sehr die Straße selbst bietet die Pracht, Es fehlen Bäume. Blumen gibt’s längst nicht überall. Keine durchgängige stilvolle Beleuchtung. Aber was links und rechts des Prospekts an Denkmälern, Kirchen, Palais,  Geschäften, Parks, Jugendstil-Gebäuden, heater zu bestaunen ist, übertrifft weit, das was ich mir vorgestellt habe. Wie rasch Sehenswürdigkeit  auf Sehenswürdigkeit folgt!  Mit dem Rad halte ich zunächst noch jede hundert Meter an, weil ich wieder etwas genauer anschauen, lesen oder fotografieren möchte. Am zweiten Tag legt sich das, weil ich inzwischen gelesen habe, in der Stadt gäbe es 2400 Denkmal geschützte Gebäude. Mehr hat weltweit nur Venedig.

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Mit der Lagunenstadt hat Sankt Petersburg ja auch eine gewisse Ähnlichkeit: auf den verschiedenen Kanälen und Flüssen fahren ständig gut besetzte Ausflugsboote herum. Bei dem tollen Sonnenschein fühle ich mich manchmal wie in Italien. An jeder Ecke, an jeder Brücke Ausblicke, Szenen, Bilder, bei denen ich gebannt stehen bleibe.

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Wenn man dann noch bedenkt, dass hier vor 70 Jahren die Schlacht um Leningrad mit schlimmsten Zerstörungen und schrecklichsten Verwüstungen schätzungsweise 800.000 Einwohnern das Leben gekostet hat., ist es unfassbar, welche Dichte an prächtigen Bauten diese Stadt zu bieten hat.

Bei meinem ersten Spaziergang am nächsten Morgen lasse ich einfach mal diese Flut auf mich einwirken. Wer mehr wissen will, muss sich führen lassen oder viel lesen. Ich gehe einfach mal los, lass mir was ins Auge fallen und schaue dann, ob ich im Müller was dazu finde.

Das mit Jugendstil-Figuren überladene Eckhaus links ist das „Jelissejew“, ein Feinkostladen, der schon vor dem ersten Weltkrieg hier eingerichtet wurde, unter den Sowjets verstaatlicht unter dem tollen Namen „Gastronom Nr. 1 ziemlich herunterkam und nun im Postsowjet-Kapitalismus seinen alten Namen und auch seinen guten Ruf  wieder gewann. Wegen meiner Finanzschwäche kaufe ich da heute mal nicht.

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Gegenüber auf der südlichen Prospektseite steht die riesige Statue Katharinas der Großen. Ihren Sockel zieren Staatsmänner und hohe Militärs, von denen einige auch ihre Liebhaber gewesen sein sollen, allen voran General Potjemkin, den man daran erkennt, dass er, der im Türkenkrieg erfolgreiche Feldherr, seinen Fuß auf einen Turban setzt.

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So einfach die Prospektseite wechseln geht normalerweise nicht. Die Straße ist sechsspurig und stark befahren. Aber ich bin so früh unterwegs. Die Stadt wird erst wach. Noch spritzen die Wasserfahrzeuge der städtischen Straßenreinigung den Dreck von gestern in die Abwasser-Kanäle. Das machen sie hier jeden Morgen.

Die beiden äußeren Fahrbahnen sind für die Elektrobusse. Obwohl in diesem Abschnitt der mit Granitplatten belegte Bürgersteig mindestens 8 m breit ist, kommen Radfahrer im normalen Gedränge ständig in Konflikt mit den Fußgängern.  Die wagemutigen düsen deshalb auf der Busspur, müssen sich aber ziemlich sputen, wenn die leisen Busse von hinten kommend eine Haltestelle anfahren.

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Ich gehe westwärts auf der Prachtstraße weiter. An der nächsten Querstraße finde ich schon ein Tourismus-Büro. Aber es ist noch zu. Wenige Schritte weiter schaue ich in die noch menschenleere „Passage“, eine 180 m lange Einkaufsgalerie aus der Mitte des 19. Jahrhunderts mit vorwiegend teuren Läden. Zum Beispiel sehe ich eine anscheinend besondere Hummelfigur, die umgerechnet 1400 € kosten soll. Glücklicherweise schwärme ich nicht für die Figuren.

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Durch einen Fußgängertunnel kann man hier den Prospekt sicher unterqueren. Das Gostiny Dwor, ältestes Kaufhaus der Stadt aus dem 18. Jahrhundert, hat zwar nur zwei Etagen, ist aber – über Eck gebaut – geschätzt 400 m lang.

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Inzwischen ist es 9.00 Uhr. Im Dom Knigi – Haus des Buches – ein auffallend schönes  7-stöckiges Jugendstil-Gebäude mit  vergoldeten Außenleuchten zwischen den Fenstern  – kaufe ich eine Straßen-Karte vom nördlichen „Oblast Leningrad“, dem Bereich zwischen Petersburg und Vyborg an der finnischen Grenze, wo ich ja eventuell  lang fahren werde.

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Alle Kirchen am Newski-Prospekt liegen etwas zurück versetzt. Die hellblaue-weiße Armenische ist innen komplett eingerüstet. Anscheinend findet dennoch gerade ein Gottesdienst in einer Seitenkapelle statt. Die in braun-beige gehaltene katholische Katharinenkirche fällt mir auf, weil sie von außen nicht gut gepflegt wirkt. Dem Aushang entnehme ich das dennoch wöchentlich zwei Gottesdienste stattfinden.

Die dunkle Kasaner Kathedrale auf der anderen Seite mit den halbrunden Säulen-Arkaden, die dem römischen Petersdom nach empfunden sind, wirkt hier viel zu groß für den Platz, der ihr nur bleibt zwischen Kaufhaus und dem prächtigen rosa-farbenen Stroganow-Palast, der heute das Russische Museum beherbergt. Dann überquere ich die Mojka, den schmalsten Wasserlauf in der Stadt.

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200 m weiter habe ich die Wahl: Gerade aus zum Endpunkt des Prospekts, der Admiralität oder rechts durch die Bogenportale des Generalstabsgebäudes auf den riesigen Schlossplatz mit dem umwerfenden Winterpalast und der Eremitage. Hier vor der Alexandersäule habe ich gestern Abend mein miserables „Ziel-Foto“ gemacht.

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Jetzt bin ich etwa 1 km spaziert. Mehr als zweieinhalb Stunden habe ich genossen. Zwei Stunden „nur“ für das innere Drittel des Newski-Prospekts! Auch wenn dieser Stadtteil der berühmteste und imposanteste ist, werden drei Tage nicht reichen, um auch nur das zu sehen, was allgemein bekannt und wirklich bedeutend ist.

Nach einem Kaffee kaufe ich um halb elf das Ticket für die Eremitage, eine der größten Kunstsammlungen der  Welt. In der Schlange sind höchstens 30 Leute vor mir. Im Gebäude ist es noch erträglich leer und nicht zu drückend warm. In 350 Räumen sind 60.000 Kunstwerke (im Pariser Louvre 35.000).von insgesamt 3.000.000 ausgestellt. Da muss man ganz gezielt auswählen, was man anschauen will. Ich gehe nur in die 1. Etage: Räume 140 – 145 zu den  Franzosen wie Renoir und Cezanne. Dann 245 – 260 flämische und niederländische Meister, daran schließen sich die Deutschen an mit Cranach, Dürer, Holbein.

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Zum Schluss noch in den 3. Stock, 314 bis 350 zu Picasso, Gauguim, Monet, van Gogh und anderen Riesenmalern. Das ist mehr als genug. Weder Schlachten, noch Zaren schau ich an. Keine Russen, weil ich davon keinen kenne, keine orientalische Kunst, keine prähistorische, keine Möbel, kein  Porzellan, keine Münz Aber ich verlaufe mich immer wieder. Außerdem bleibe ich immer wieder irgendwo stehen und staune, weil die Räume, die Eirichtung, das Interieur des Schlosses so prächtig ist. Manches Raum dominiert die darin ausgestellten Exponate. Das Museum ist ein herrliches Schloss, gerade innen. Die Kunstwerke hängen hier nicht nur an den Wänden. Winterpalst und Eremitage sind ein Gesamt-Kunstwerk.

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Nach dreieinhalb Stunden ohne Trinken, ohne Essen – man darf nichts mit rein nehmen und kann nichts kaufen –  in denen ich mehrfach Tränen in den Augen hatte, weil Bilder – manchmal unbekannte, meist aber die weltberühmten mich rührten ließen, bin ich wieder an der frischen Luft. Erst trinken, dann ein Brötchen und dann an einer luftigen, schattigen Stelle aufs ruhige Wasser gucken und mich ausruhen.  Im nahen Sommergarten an einem kleinen Teich gelingt das. Statt des Brötchens wirds ein fettiger Krapfen, aber was anders gibts nicht an dem Kiosk.

Dass es solch ruhige Ecken, kleine beschauliche Parks, Grünanlagen mit Kinderspielplätzen, Ruhebänken unter Plantanen daneben  Kaffebuden oder Teehäuser auch noch an vielen Stellen gibt, macht die Stadt noch liebenswerter. Sant Petersburg ist mit ca. 5 Millionen Einwohnern die zweitgrößte russische Stadt, die fünftgrößte in Europa, hat sicherlich jede Menge Probleme, wie alle Metropolen dieser Welt. Nach einer Straße und einem Museum bin ich völlig von ihr eingenommen. Die Stadt sollte man gesehen haben.