Nass-kaltes, windiges Burgund

Dienstag, 04.07.: Troyes – Vezelay

4. etappe: Troyes – Vezelay 120 km  20,8 km/h   insg.  582 km

Beim frühstück gegen 7.00 uhr bedient mich der gestern wütend weggerannte ‚bäcker‘, während der langhaarige nicht zu sehen ist. Es gibt café au lait, baguette, zwei croissant, butter und marmelade. Halt das übliche in Frankreich. Wie gestern reichere ich das petit déjeuner mit einer fast schwarzen banane und einem müsli-riegel an.

Viel schlimmer ist der regen, dessen ende abzuwarten sich nicht lohnt, denn der himmel ist rundherum grau. Noch in Rosières kaufe ich eine ‚L’Equipe‘, wasser und bananen. Eine poststelle hat der vorort nicht, aber schon nach 10 km in Bouilly kann ich das erste päckchen mit reiseprospekten und landkarten, die ich nicht mehr benötige, zurückschicken. Da das postamt erst um 9.00 uhr öffnet, klopfe ich an ein fenster, durch das ich zwei freundliche damen mit dem sortieren der post beschäftigt sehe. Wahrscheinlich weil ich so pudelnass ihr mitleid errege, bitten sie mich gleich herein, bieten mir kaffee an und wollen, dass ich ihnen genau erzähle wohin und warum ich pilgere. Zum glück ist eine der beiden gebürtige elsässerin und spricht ein wenig mehr deutsch als ich französisch.

In Bouilly fallen mir noch eine schön restaurierte kirche aus dem 16. jahrhundert und ein neo-klassizistisch kitschiges rathaus auf mit angegliederter ‚école des garcons‘. Aber es regnet so sehr, dass ich nur mit blitz fotografieren könnte. Jetzt bewährt sich die löffler-jacke, denn trotz der stundelangen berieselung bleibe ich oberhalb der gürtellinie trocken. Aber auch unten rum bin ich längst nicht so nass wie auf dem rennrad, weil die schutzbleche das spritzwasser auffangen.

Die ‚Pays d‘ Othe‘ bieten eine hügelige landschaft mit bäuerlichem flair. Aber die steigungen sind nicht ohne. In anbetracht der noch steileren hügel an den Cote d‘ Othe, des wetters und des geringen verkehrs entschließe ich mich 10 km auf der N 77 zu bleiben. An dieser von tagestouristen bei gutem wetter viel genutzten straße finde ich eine als besucherzentrum ausgebaute alte poststation ‚Le Cheminot‘, in der ich die infotafeln über die alte poststraße lese, als ich mich ein paar minuten unterstelle, weil es wirklich zu doll regnet.

Als ich in Chamoy abbiege von der Natonalstraße, geht die kletterei gleich los. Nicht sehr steil, aber alle anstiege sind länger als 2 km. Dabei regnet es immer noch in strömen. In Ervy – einem mittelalterlichen städtchen mit gut erhaltenem stadttor – trinke ich 2 tassen tee, um mich aufzuwärmen und esse zwei große stücke quiche. Die letzten belgischen francs, die ich noch mitschleppe, will ich bei einer bank (‚credit agricole‘) umtauschen. Aber die machen das nur für kontoinhaber, schicken mich stattdessen zur post. Auf dem postamt beschäftigt diese umtauschaktion einen computer und drei freundliche postangestellte für mehr als 15 minuten. Schließlich zahlen sie mir ganze 105 ff aus.

Inzwischen ist es fast mittag und ich habe erst 50 km zurückgelegt, bin aber schon im departemet Yonne. Glücklicherweise lässt der regen nach. In Flogny la Chapelle ist markt. Genau wie vor jahren in der Normandie und der Vendee oder im vorigen herbst in der Auvergne bin ich wieder überrascht, wie typisch ländlich, aber vielfältig das angebot auf diesen kleinen dorfmärkten ist: lebendes geflügel, zig verschiedene käse- und genau so viele wurstsorten, von denen die händler behaupten, sie seien alle ‚de pays‘, obststände, die überquillen von nektarinen, melonen, aprikosen und pfirsichen, vielfältige marmeladen, honige und andere supersüße brotaufstriche sowie fischstände, die den gesamten atlantik-inhalt zu bieten scheinen. Ich kaufe wieder bananen, nektarinen und orangen (vitamin c als vorbeugung einer zu erwartenden erkältung).

Gleich außerhalb des ortes überquere ich den ‚Canal de Bourgogne‘, von dem ich schon oft abbildungen in hausboot-reise-prospekten gesehen habe. Hier kommt er mir noch beschaulicher und stiller, aber auch viel schmäler vor als in den glanzpapier-broschüren. Als ich kurz auf der kanalbrücke anhalte, fragt mich eine ältere englische dame, die mit ihrem enkel von einem boot runter gestiegen ist, ob ich die kirche von Flogny besichtigt hätte. Als ich verneine, meint sie, dann solle ich aber unbedingt über Auxerre weiter fahren wegen der fresken in der abteikirche St.Germain.

In der gaststätte in Ervy lag ein prospekt, in dem die sehenswürdigkeiten von Tonnerre gepriesen wurden. Jetzt preist die Engländerin Auxerre an. Aber ich bleibe bei meiner entscheidung, die ich schon zu hause getroffen habe: Gerade aus ins Burgund über Chablis! Denn auf dieser route finde ich die verkehrsarmen straßen.

Aus dem tal des Armancon geht es mehr als 5 km bergan und zwar auf einer absolut verkehrsarmen kleinen nebenstraße, aber bei gegenwind und heftigem regen. Als ich auf einmal ein mir unbekanntes rasch anschwellendes geräusch höre, das von einem flugzeug kommen könnte, fällt mir ein, dass ich in dieser gegend die tgv-trasse überquere. Schon stehe ich auf einer schmalen eisenbahn-brücke, schnappe meinen fotoapparat und erwische den richtung nordwesten unter mir daher rauschenden zug und gleich darauf auch seinen gegenzug.

Auf dem höchsten punkt des Bois de Maligny angekommen frage ich mich, wann denn endlich die weinberge vor mir auftauchen, denn ich bin nur noch sechs kilometer von Chablis entfernt. Keine 500 m weiter auf der hügelkuppe passiere ich ein schild ‚Bourgogne‘. Die wolken reißen auf, die sonne scheint, das tal des Serein und die weinberge von Chablis breiten sich vor mir aus. Während mich die landschaft, die ich zuletzt durchradelt habe, an den Hunsrück errinnert – rauh, waldreich, viel holzwirtschaft, ärmliche dörfer mit schiefergedeckten kleinen häusern – fühle ich mich jetzt wie in der Pfalz: sanft geschwungene hügel mit ausgedehnten weinbergen sowie stattliche winzerhäuser mit blumen und teilweise mit wappen geschmückt.

Vor Chablis komme ich durch ein gewerbegebiet, in dem unzählige liter wein in alutanks auf ihre abfüllung warten. Hier im modernen teil des weinortes ist nichts zu sehen von holzfässern, winzertradition oder ökoanbau. Das gibt’s erst im ortszentrum, vor allem in den schloss-kellereien, von denen ich eine besichtige. Auch als einfacher radtourist werde ich ausgiebig informiert und gut bewirtet. Allerdings von ihrem ‚grand cru‘ schenken sie nichts an besucher aus.

Im ort sind viele wanderer und radfahrer unterwegs, unter anderen eine große (15 -20) gruppe englischer radtouristen, alle mit den gleichen leihrädern, radtaschen und regenjacken. Sie radeln täglich von einem anderen hotel eine etwa gleich lange tour, heute etwa 60 km rundum Auxerre. Bei meiner mittagsrast teffe ich noch ein niederländisches radler-paar, das hier urlaub macht, und einen jungen Pariser mit einem ‚look‘-reiserad. Er will in tagesetappen von 150 km über die Französchen Alpen an die Cote d‘ Azur.

Mittlerweile ist es schon 14.00 uhr. Von Chablis über die D 2 richtung süden steigt die straße wieder tüchtig an. Bis Prehy sind es sieben kilometer und dann geht’s noch mal höher bis St. Cyr. Schließlich fahre ich auf einer höhe von mehr als 300 m über die A 6. Es bleibt trocken, aber der wind wird stärker, je höher ich komme. Selbst auf der sechs kilometer langen, recht steilen abfahrt nach Vermenton erreiche ich keine 35 km/h.

In Vermenton ist das office de tourisme in einem alten rundturm der ehemaligen stadtbefestigung untergebracht. Über den jakobsweg haben sie keine speziellen informationen aus diesem gebiet. Bei einer Kaffeepause in einer ‚pmu‘-gaststätte verfolge ich die übertragung des heutigen mannschaftszeitfahren der Tour de France.

Plötzlich tippt mir jemand auf die schulter und sagt in bestem limburgischen platt: „Wir sin va Mestreech.“ Ein ehepaar, das hier auf einem campingplatz urlaub macht und täglich in dieser pinte das radrennen am fernseher verfolgt. Die beiden kennen Vezelay und wissen, dass ich dort auf jeden fall eine unterkunft kriegen kann, entweder bei den mönchen oder auf dem campingplatz.

Nach der pause kann ich noch mal richtig gas geben. Bis Vezelay sind es noch 25 km. Immer an der Yonne entlang, doch immer wieder auf und ab. Hier im tal habe ich nicht mehr so viel gegenwind. Der schlussanstieg nach Vezelay ist längst nicht so steil, wie der wirt in Vermenton ihn schilderte. Er meinte auf dem letzten stück hätte er sogar mit dem auto schwierigkleiten gehabt, die steigung zu bewältigen. Selbst die letzten 300 m auf kopfsteinpflaster durch den mittelalterlichen ort hoch zur kathedrale St. Madeleine sind kein problem.

Hier oben erwischt es mich: die kirche, in der gerade eine abendmesse gefeiert wird, in ihrer herausragenden lage auf dem berg, mit ihrer beeindruckenden größe und ihrer vollendeten form lässt mir mehrere schauer den rücken runter laufen. Auffallend ist vor allem das lichtspiel in der kirche: zunächst betritt man eine recht dunkle vorhalle. Dann folgt der eigentliche eingang mit dem tympanon, in dem christus mit offenen armen dargestellt ist. Hierdurch scheint schon das helleres licht aus dem hohen kirchenschiff. Schließlich gelangt man in die strahlend helle chorhalle, die fast weiß leuchtet. Nicht zu unrecht ist die kathedrale von der Unesco zum weltkulturerbe erklärt worden.

Ich meine etwas zu spüren von dem pilgergeist, der hier immer noch herrscht, von der aufbruchstimmung, dem gedanken, der menschen auf den weg setzt und sie zumindest für lange zeit nicht mehr loslässt. Zurück auf dem vorplatz kann ich mir gut vorstellen, wie Bernhard von Clairvaux hier im 12. jahrhundert vor tausenden zuhörern gepredigt und zum zweiten kreuzzug aufgerufen hat. Damals soll der ort, in dem jetzt 600 menschen leben, 12000 einwohner gehabt haben.

Ein älterer geistlicher zeigt mir, wo ich nach der messe den stempel bekommen kann. Weil ich noch warten muss und es hier auf dem ‚ewigen hügel‘ heftig weht, ziehe ich meine verschwitzten sachen aus, ein trockenes unterhemd an, eine jacke und ein lange radhose drüber. Jetzt wird mir wärmer. Ich rufe zuhause an und erzähle Gabriele von diesem bemerkenswerten ort.

Der junge mönch, der mir den stempel gibt, spricht deutsch, weil er eine zeitlang in Trier studiert hat. Er lädt mich zum essen ins presbyterium ein, betont allerdings, dass das essen in stille von statten gehe und ich nachher beim spülen helfen müsse. Ich nehme dankend an und darf mein fahrrad in den garten des priesterhauses tragen.

Ich wasche mir in der küche die hände über einem uralten spülstein und folge dann den mönchen und brüdern in den speisesaal. Insgesamt sind acht geistliche beim abendessen. Ich bin der einzige gast. Allerdings scheint mir ein älterer asiatisch aussehender mönch auch nicht zur hier ansässigen Communion de Jerusalem zu gehören, die sich vor wenigen jahren vorgenommen hat,  Vezelay mit neuem geistigen leben zu füllen und hier eine neue religiöse gemeinschaft aufzubauen.

Auf einem langen tisch stehen tortellini, paprika-gemüse, salat, gekochte eier, käse, joghurt, obstsalat, frisches obst, brot und wasser. Jeder sucht sich einen platz, zwei mönche essen im garten. Ich werde per aufmunterndem augenzwinkern ermutigt, einen zweiten teller zu essen und tue dies bereitwillig. Dann wird gewartet, bis alle fertig sind, und das geschirr in die küche getragen. Dort trockne ich ab und erfahre per fingerzeig, wo ich was abzustellen habe.

Die atmosphäre in diesen alten, aber gepflegten einfach ausgestatteten räumen, die freundlichkeit dieser ständig lächelnden, aber schweigenden männer in ihren braunen kutten, die ruhe und ausgeglichenheit dieser mönche vermitteln mir erstmals das gefühl, eine religiös orientierte pilgerreise zu unternehmen, aber auch ein gefühl der freude und zufriedenheit mit meiner reise, die ich so bisher noch nicht empfunden habe.

Nach dem essen bekomme ich eine wegbeschreibung zum haus ‚Bethanie‘, einer pilgerherberge unten am ortseingang. Außerdem erhalte ich einen code für die haustür und meine zimmernummer.

In meinem kleinen zimmer kann ich alleine nach einer ausgiebigen warmen dusche in einem frisch bezogenen bett schlafen. Vorher will ich die verdreckte radkleidung und unterwäsche waschen. Aber die wäsche muss warten, denn im haus ist eine gruppe französischer jugendlicher und junger erwachsener mit behinderungen untergebracht. Begleitet werden sie von einem sozialpädagogen-paar und vier jungen mädchen.

Sie sind zuhause in der gegend von Compiegne, wohnen dort alle zusammen in einer wohnstätte ‚l’espèrance‘, die geführt wird nach den stark religiös beeinflussten ideen des kanadiers Jean Vanier. Die tage hier nennen sie ‚pèlerinage‘. Sie sollen dazu dienen, die vielfach auch psychisch kranken menschen eine stärkere (religions)-gemeinschaft erleben zu lassen.

Als ich im Haus ankomme, versucht gerade einer der jungen männer im flur mit einer rohrzange den abgebrochenen vorderen umwerfer eines alten mountainbikes aufzubiegen. Auf die frage, warum er das mache antwortet er: „Weil er nicht mehr funktioniert.“ Ich sehe, dass der umwerfer nicht mehr am rahmen befestigt werden kann und dass auch das schaltkabel gerissen ist. Als mich eine der betreuerinnen fragt, ob ich helfen könnte, nehme ich den umwerfer einfach ab, lege die kette auf das mittlere blatt und spanne sie. Dann stelle ich die hintere schaltung so ein, dass sie einigermaßen geräuscharm funktioniert und mache eine kurze probefahrt.

Als ich davon zurückkomme, erklärt der betreuer mir, dass sie morgen bei einer wanderung dieses rad brauchen, weil einer der jungen leute nicht so weit laufen, aber radeln kann. Bei einer spielerei heute hier im ort, sei der umwerfer abgerissen und sie hätten schon befürchtet, dass die morgige wanderung ausfallen müsse. Zum dank für meine hilfe laden sie mich ein, mit ihnen den abend zu verbringen. Erst singen sie religiöse lieder zur gitarre. Dann tragen einige ihre gedanken zum tage vor, von denen ich nur wenig verstehe. Danach beraten sie über den ablauf des morgigen tages und bleiben noch ein wenig beisammen sitzen. Als der betreuer ihnen schildert, wie weit ich mit dem rad gefahren bin und wo ich noch hin will, flöten einige bewundernd, obwohl viele von ihnen sicherlich keine vorstellung von der entfernung haben. Dann werde ich für ihr tagebuch interviewt. Zum abschluss schenken sie mir eins ihrer selbstgemachten liederhefte.

Im  laufe des abends kommt noch eine 50jährige Niederländerin aus Amsterdam in den aufenthaltsraum, die ‚in armut‘ zu fuß nach Jerusalem pilgert. Sie hat für diese reise mehr als ein jahr zeit und nur 50 ff pro tag zur verfügung, ist also stark auf die unterstützung anderer angewiesen. Ich unterhalte mich mit ihr und finde manche ihrer ansichten zu extrem. Nach Compostela ist sie schon vor jahren gewandert. Mehrere sommer hat sie bei Rabanal in einer primitiven herberge einem Tomas geholfen pilger zu versorgen. Für ihn gibt sie mir auch einen gruß mit. Sie überredet mich, morgen früh um sechs uhr zum laude in die kirche zu gehen, indem sie mir schildert, wie hell die kirche in der morgensonne von innen erstrahlt und wie gut die mönche und nonnen singen.

Gegen 11.00 uhr lege ich mich hin. Meine rechte hand fühlt sich heute abend ganz taub an. Schmerzhaft ist das nicht, nur lästig. Unglaublich, dass mir das noch passiert, obwohl ich so lange ausprobiert und getüftelt habe an der lenkerform. Darum schreibe ich auch ungelenk. Morgen will ich an der handhaltung am lenker etwas ändern. Vielleicht dicke ich den lenker mit tape auf. Ich hätte halt doch den gewohnten rennlenker motieren sollen.