PILGER MOTIVE

Bevor mein schwiegervater meiner tochter 1993 den bildband ‚Der Jakobusweg‘ von Kurt Benesch schenkte, hatte ich noch nie etwas von diesem weg gehört oder gelesen. Aber schon beim ersten durchblättern des buches, begann ich mir diesen weg als radtour auszumalen. Immerhin dauerte es noch sieben jahre, ehe ich endlich los fuhr.

Geplant habe ich die tour x-mal: bücher und landkarten über den jakobsweg studiert, atlanten gewälzt, routen am computer ent- und wieder verworfen, passende partner gesucht, aber nicht gefunden, aufbau und ausstattung des fahrrades auf die route abgestimmt, schließlich packlisten und gepäck  zusammengestellt.

Sportlich war die tour wegen ihrer länge von fast 2500 km und den vielen steigungen eine herausforderung. Aber ich fahre so viel rad, dass ich bei dosiertem tempo die strecke problemlos schaffen konnte, auch wenn sie teilweise über unbefestigte straßen führte. Da ich sie aber alleine in weniger als 22 tagen zurücklegen wollte, wurde die aufgabe schon etwas anspruchsvoller. Dass ich dabei auch noch kultur und kunst, land und leute der zu durchfahrenden regionen zumindest ein wenig kennen lernen wollte, erschwerte das unternehmen, denn das kostete zeit, die ich als radfahrer raus holen musste.

Meine erste und wichtigste motivation, den jakobsweg zu fahren, war also eine radsportliche: Ich fahre gerne lange strecken mit dem rad, habe freude an dieser gleichmäßigen, nicht zu anstrengenden bewegung, die mir ein zügiges, aber nicht zu schnelles vorankommen ermöglicht, bei dem ich mich entspannen kann. Dabei er’fahre‘ ich landschaften, orte und menschen näher, intensiver und umfasssender mit allen sinnen als auf jeder anderen reiseart. Damit gehöre ich zu den ‚fitnesspilgern‘, die solche unternehmungen starten, um die eigene leistungsfähigkeit zu erproben oder auch sich und anderen zu beweisen. (‚Midlive syndrom‘ – ich werde bald 50.)

Doch ich zähle mich – ohne tiefgehende kenntnisse auf diesem gebiet zu beanspruchen – auch zu den ‚kulturpilgern‘, denn ich wollte diesen weg ebenfalls nutzen, um vielfältige kunstwerke, denkmäler und sehenswürdigkeiten kennen zu lernen.

Dadurch wollte ich mich aber nicht abbringen lassen von meiner sportlichen fahrweise. Vielmehr sollte erst die sportlich zügige fahrt mir möglichst viel zeit zu besuchen und besichtigungen ermöglichen. Umwege – wie Nooteboom[1] sie  beschreibt und für ihn unvermeidbar waren – konnte und wollte ich mir nicht erlauben, außer sie erwiesen sich aus radfahr-technischer sicht als sinnvoll, wie etwa das ausweichen auf verkehrsärmere nebenstraßen. Während der niederl. schriftsteller und kunstkenner – insbesondere in der unendlichen weite und leere der spanischen landschaft – gerade ‚Verlangsamung‘[2] sucht, war ich beim radfahren bemüht um ‚versnelling‘ (niederl.: ‚beschleunigung‘, aber auch ‚gangschaltung‘). Einerseits konnte ich durch sportliches fahren die charaktersitika des weges, die eigenarten des streckenprofils genüsslicher erfahren. Andererseits konnte ich nur durch diese fahrweise (innere) ruhe und zeit finden für natur und kultur, für landschaften und städte, geschichten und legenden dieses weges und vor allem für begegnungen mit menschen, die hier leben oder unterwegs sind.

Eine selbsterfahrende intention wollte ich auf der tour auch verfolgen: über mich selbst nachdenken, meine einstellung zum beruf, zur familie überdenken, den umgang mit anderen, mit zeit und muße, mit meiner ungeduld, meiner zunehmenden nervösität, meinem älter werden. Immerhin war ich zum ersten mal in meinem leben mehrere wochen alleine unterwegs und auf mich selbst gestellt und hoffte dies als chance nutzen zu können, um mich auf mich selbst zu besinnen.  Dabei war mir klar, dass meine sportliche fahrweise und insbesondere das selbstgesetzte zeitlimit dieser intention zuwider liefen. Gerade in diesem widerspruch lag aber auch die besonderheit meiner tour: dem eigenen zugegebener maßen ein wenig ausgearteten hobby frönen (viel und leistungsbezogen radfahren) und dabei über die mit dem ausleben dieser vorliebe einhergehenden unarten und schwächen (egoismus, unruhe, dominanz) und deren abbau reflektieren.

Ein weiteres motiv lag im streben nach einer art des erlebnis-urlaubs, der nach den perfekt geschnürten sorglos-paketen der pauschalreisen auf mich wie auf viele reisende einen besonderen reiz ausübt. Ein hauch von kindlicher pfadfinderromantik, modischem outdoor-urlaub oder ungezwungener abenteuer-atmosphäre schwang mit in meiner vorstellung von dieser fahrt.

Religiöse motive spielten vor antritt meiner fahrt eine untergeordnete rolle. Aber unterwegs habe ich gespürt, wie empfänglich ich war für die atmosphäre und die emotionale wirkung der alten pilgerorte, wie sie mich beschäftigten die legenden und die zeugnisse inniger frömmigkeit. Vor allem war ich betroffen von der in meinem alltag nicht mehr anzutreffenden gläubigkeit, die ich auf diesem weg mehrmals in der gemeinschaft mit anderen erlebte. Diese eindrücke haben nicht bewirkt, dass ich nach der pilgerfahrt öfter zur kirche gehe oder häufiger bete. Aber der jakobsweg hat mich veranlasst, mehr über den glauben nachzudenken und mehr an die kraft zu glauben, die von ihm ausgehen kann – unabhängig davon, woran man glaubt. „Nach dem weg ist alles anders“, behaupten viele pilger, die ihn gegangen sind. Diese aussage geht mir zu weit. Aber dieses tagebuch kann (mir) vielleicht aufzeigen, ob, wo und welche meiner einstellungen und denkweisen sich auf und nach dem weg verändert haben.

Der ‚camino real‘ verläuft über viele hundert kilometer in unmittel- barer nähe einer straße, oft einer verkehrs-  reichen national-straße,  oft aber neben ruhigen landstraßen, die für radfahrer gut geeignet sind.

 

 

 

 

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[1] C. Nooteboom, 1996

[2] vgl. C. Nooteboom, 1996,  S  367