REIN GEWAGT

Die letzten 50 km bis Istanbul sind für einen radfahrer riskant. Die straße ist mindestens vierspurig, aber mein löchriger, holpriger, aufgeplatzter und kiesiger mehrzweckstreifen verschwindet allzu oft im schotter, in einer abbiege-/auffahrspur oder einfach im nichts. Bei schotter muss ich halt gucken, dass ich mir keinen platten hole und am rollen bleibe. Auf der abbiege-/auffahrspur bin ich besonders gefährdet. Ich will ja gerade aus. Die ab-/auffahrenden autos rasen mal rechts mal links an mir vorbei. Im nichts kann ich mich nicht auflösen. Wohl oder übel muss ich dann ganz rechts auf der rechten fahrbahn mit dem fließenden verkehr mit fahren, obwohl ich viel zu langsam bin. Das gibt dann stets ein böses gehupe, wenn einer sich nicht traut, an mir vorbei zu fahren.

Mit zunehmender dauer fühle ich mich besser in diesem down-town-strom. Istanbuls zentrum rückt näher. Meine hochstimmung wächst. Wie ein radkurier in New York komme ich mir vor, umgeben von all den hochhäusern, zwischen all den autos auf der mehrspurigen straße. Immer frecher behaupte ich mich auf meinem schmalen streifen.

Manchmal möchte ich zum fotografieren anhalten: das verkehrsgewimmel auf der sechsspurigen E 90 bei Bakirköy von oben, die wolkenkratzer-hotels in der nähe des noch höheren fernsehturms von unten, die riesigen einkaufscenter und dazwischen eine kleine moschee, ein voll besetzter qualmender trabi, ein olles moped mit anhänger und ich – der langsamste von allen.  

Echten bammel bekomme ich in der mindestens zwei km langen ziemlich steilen abfahrt zum stadtteil Bakirköy. Ohne viel zu treten werde ich immer schneller. (max. 62 km/h) Bei dem tempo kann ich nicht ganz rechts bleiben auf meinem holperstreifen. Als ein schwerer laster mich nah überholt, ruckt mich der sog um einen gefühlten meter nach links in die fahrbahnmitte. Als der lkw weg ist, drifte ich wieder nach außen. Das blut stockt ganz kurz in meinen adern als in dem moment ein bus rechts neben mir zur haltestelle will. Wenn der nicht gebremst hätte…

Erst an der ausfahrt Bakirköy ist die sperrfläche so breit, dass ich dort sicher anhalten kann. Ich bin außer atem und meine hände zittern vom krampfhaften festhalten des lenkers. Am meisten schmerzt aber der verspannte rücken, der anscheinend bei dieser höllentour zuviel haltearbeit leisten musste. Noch einen kreisverkehr, dann eine längere fußgängerzone und eine kurze einbahnstraße in falscher richtung – schon stehe ich am fährhafen. Endlich kann ich mich mal wieder transportieren lassen und entspannen.

Freitag mittag, strahlender sonnenschein. Die alte fähre
hält kurs auf Istanbuls vordersten asiatischen bospurushafen. Gerade aus vor mir der überragende Galataturm. Darunter vier weiße kreuzfahrtschiffe. Weiter rechts die nur wie eine zarte bleistiftskizze erkennbare hängebrücke zwischen Europa und Asien. Links die einfahrt ins Goldene Horn.Noch weiter links die berühmte silhouette Istanbuls mit Blauer Moschee, Hagia Sophia und Topkapi Palast. 

Ich bin hin und weg. Gerührt wische ich mir schnell die tränen ab, bevor ich – das rad an der hand – erstmals asiatischen boden betrete.

Um zum hotel zu gelangen muss ich wieder eine fähre über den Bospurus zurück nach Europa nehmen. Hier in der altstadt Istanbuls, in der touristische highlights dicht zusammen liegen, stehe ich als radler auf verlorenem posten. Überall menschen dicht gedrängt, hupende autos stoßstange an stoßstange, busse, taxis und die tram, extrem hohe bordsteine, fehlende oder schlecht zu lesende straßennamen. Den stadtplan auf dem lenker, die augen überall, ich weiß ich einfach nicht, wo ich hinschauen soll. Für einen hyperaktiven wie mich ist dieser impuls-tsunami nicht zu verkraften: all die minarette und moscheen, 

die hochaus-werbewände, der mobile petroleumlampen-verkäufer, die schwarz gekleideten frauen, der laden mit 50 gleichen elektromotoren im regal, ein anderer mit hunderten verschiedener papiersorten, die leerstehende ruine neben dem drei sterne hotel, die streunenden katzen und hunde, der fahrende copyshop, die an einer straßenecke kauernden roma-kinder, die riesigen türkischen flaggen, die auf der straße backgammon spielenden alten, das ehepaar aus anatolien, das mit seinen koffern genauso schlecht über die straße kommt wie ich. Dazu der lärm, die straßenhändler die türkische musik aus den warenhäusern, das allgegenwärtige Nokia-klingeln. Um halb eins ruft der muezzin noch zum gebet und ein lästiger ober will mich trotz Ramadan in sein restaurant locken.

Irgendwann steige ich aufs rad. Schieben in diesen steilen kopfsteinpflastergassen bringt neben rückenschmerzen nur ärger mit fußgängern und autofahrern. Das viertel Sultanahmed erreiche ich schnell. Das hotel nahe der Blauen Moschee finde ich leicht. Das rad kette ich auf der rückseite unterhalb der feuerleiter an ohne zu fragen. Nach kurzer verwirrung  kann ich im zimmer das gepäck abstellen. Um 14.00 uhr bin ich schon an der Blauen Moschee. Leider bis 15.30 uhr geschlossen. Es gibt dennoch zu viel zu sehen.