Strahlende sonne – rotes land: Rioja

Donnerstag, 13. 07.: Estella – Belorado

13. etappe: Estella – Belorado 130 km 19,0 km/h   insg. 1730 km

Morgens um 6.30 uhr suche ich das café, in dem angeblich für pilger ein frühes frühstück angeboten wird. Aber rund um den markt sind alle läden noch zu. Die bauern und händler, die auf dem platz ihre stände aufbauen, können mir auch nicht weiter helfen. Also kaufe ich – wie gewohnt – obst, käse und wasser, esse aber noch nichts.

Anschließend fahre ich nochmals zum fotografieren zu den kirchen San Miguel und San Pedro de la Rua. Die morgensonne bietet nämlich auf der nordseite des tunnels ein viel besseres licht. Dann fahre ich noch mal in den ort und finde am bahnhof eine bar in der ich einen großen milchkaffee und zwei süße brötchen für weniger als fünf DM bekomme.

Kurz vor acht radle ich los. Zunächst läuft es gar nicht. Beide knie schmerzen. Hab ich gestern zu groß getreten? Cool bleiben, druck wegnehmen, klein treten. So sehr bin ich mit mir und meinen knien beschäftigt, dass ich gleich hinter Estella die abbiegung zum kloster von Irache und dadurch auch den brunnen der weinkellerei von Irache ‚fuente del vino‘ verpasse – was ich aber erst stunden später feststelle – und also auch dort keinen wein trinken kann.

Danach zieht ein fußpilger aus Locarno meine ganze aufmerksamkeit auf sich, der mit einem frohen lied auf den lippen einen 40 kg schweren bunt geschmückten karren hinter sich her zieht. Er erklärt mir (leider verstehe ich kaum italienisch), dass er gegenüber seiner familie ein gelübde abgelegt hat, auf diese weise nach Compostela zu pilgern. Den grund dieses gelübdes nennt er mir aber nicht. Für ein foto schmeisst er sich in pose.

Auch im gebiet von Navarra wird wein angebaut und hier an der grenze zum Rioja soll ein ganz besonders guter tropfen wachsen. Schon bald erreiche ich die burg von Monjardin, die Karl der Große gegen ein heer von 3000 Navarresern und Sarazenen eroberte und damit das gesamte territorium Navarras beherrschte.

Nachdem ich bei Uriola den höchsten punkt des heutigen vormittags erreiche, läuft’s wieder besser. Es ist schon warm geworden. Lerchen steigen zwitschernd auf und grillen zirpen. Nach Los Arcos geht’s  runter. In dem kleinen ort fällt mir die großartige, leider verschlossene kirche Santa Maria sofort ins auge, bei der man den romanischen ursprung gut erkennen, aber auch gotische elemente und verzierungen im plateresken stil entdecken kann. Dennoch wirkt die kirche sehr harmonisch, obwohl das gebäude die verschiedenen blütezeiten des grenzstädtchens wiederspiegelt, das viele jahrhunderte von seiner rolle als zoll- und geldwechselstation auf dem pilgerweg profitiert hat. Nahe der kirche vor der brücke über den Rio Odron fahre ich durch die Puerta de Castilla, das stadttor, durch das die pilger den ort richtung Kastillien verließen.

An der plaza kaufe ich in einem piepkleinen laden mein mittagessen:  joghurt, schinken, käse, tomaten, brot und saft zu einem unglaublich geringen preis.  Außerhalb des örtchens mache ich im dürren gras an einer alten kapelle meine mittagspause. Nach dem ausgiebigen essen muss ich mich gleich in die spärlichen sträucher neben der landstraße schlagen und mich ängstlich umschauen, ob ich nicht doch einen vorbei ziehenden pilger mit meinem sanitären stopp in freier natur erschrecke. Der gut zu gehende, aber wegen vieler stufen kaum zu befahrene camino verläuft nämlich hier wieder direkt neben der straße. Und auf ihm sind viele fußpilger unterwegs, die wahrscheinlich heute morgen sehr früh in Estella los gewandert sind.

In Viana – einem kleinen ehemals befestigten städtchen mit ca. 3000 einwohnern – erlebe ich eine wahrlich goldene überraschung: die ursprünglich gotische dreischiffige kirche, Iglesia Santa Maria, aus dem 13./14. jahrhundert hat neben herrlichen fresken und vielen reich geschmückten kapellen einen überladenen goldenen barockaltar. In der kirche darf man nicht fotografieren. Ich tu es aber doch.

Vor dem besonders schönen und in der form eines altars gestalteten südportal der kirche erinnert ein grabstein an Césare Borgia, der schillerndsten figur in der geschichte Vianas, dessen gebeine man zuerst prunkvoll am hauptaltar bestattete, später aber vor dem gotteshaus verbrannte, weil dieser über leichen gehende machtmensch den stadtvätern doch allzu blutrünstig und gewissenlos erschien.

Césare Borgia war der sohn des papstes Alexander VI. und bruder der fälschlicher weise als lebenslustig und gefährlich geltenden Lucrezia Borgia. Mit 17 jahren war Césare schon erzbischof von Valencia, mit 18 kardinal. Mit 23 verzichtete er auf seine geistlichen würden und heiratete die schwester des königs von Navarra. Er führte mehrere blutige eroberungskriege in Italien, richtete blutbäder an, ließ viele seiner gegner hinrichten. Erst 32 jahre alt fiel er im kampf gegen aufständler hier in Viana im jahr 1507.

Das Navarra-gebiet habe ich jetzt hinter mir und damit – so hoffe ich – auch die hohen berge. Nun beginnt das berühmteste rotwein-anbaugebiet Spaniens, Rioja. Ich nehme an, dass es zwar hügelig bleibt, aber dass die anstiege kürzer werden. Im tal des Ebro hält mich nur der seitenwind auf. Es geht so langsam weiter, dass ich erst gegen mittag in Logrono ankomme, der hauptstadt des Rioja-gebietes mit 120.000 einwohnern.

Der Ebro fließt träge dahin und ist fast ganz zugewachsen. Über die alte steinbrücke komme ich in die lebhafte altstadt voller pilger und touristen. Von der brücke folge ich dem alten innerstädtischen pilgerweg, der parallel zum fluss verläuft. Auf ihm finde ich erst den pilgerbrunnen und gegenüber die kirche Santiago el Real, die berühmt ist wegen der zwei verschiedenen darstellungen des apostels an der barocken südfassade als ‚Matamoros‘ (maurentöter) und als pilger. Auch der hauptaltar der kirche ist dem hl. Jakob gewidmet.

Dann radle ich zur Plaza del Mercado. An diesem zentralen rechteckigen platz steht die wegen ihrer zwillingstürme bekannte barocke kathedrale St. Maria de la Redonda (Redonda bedeutet wohl soviel wie rund, weil die ursprüngliche kirche achteckig war). Am westportal ist sie stark beschädigt und deswegen verschlossen.

Als ich in einem der umliegenden cafés rast mache, spricht mich ein auto-tourist aus Roermond an. Er erzählt mir, dass eine fußpilgergruppe aus seiner heimatstadt ihre wallfahrt abgebrochen hat, weil ein mitpilger unterwegs schwer erkrankt ist. Da fällt mir wieder ein, dass meine knie nicht mehr schmerzen, meine finger nicht mehr kribbeln, die oberlippe heilt, mein rücken nicht schmerzt, ich auch sonst keinerlei beschwerden habe. Für meine gesunde konstitution sollte ich mich öfter beim herrgott bedanken, nicht nur auf dieser tour.

Schließlich komme ich auf der Rua Vieja fahrend an die Puerta del Camino, die Karl V. erbauen ließ und  durch die die pilger aus der stadt auszogen.

Beim verlassen der stadt entdecke ich die ersten storchen-nester auf einem kirchturm. Damit bin ich jetzt auch augenscheinlich in Kastillien, denn diese urspanische provinz gilt als land der störche. Leider höre ich kein geklapper, dafür aber zirpen grillen den ganzen heißen tag lang.

Ich bin zwar immer noch in einem weinanbaugebiet, aber hier wächst viel weizen, der gerade geerntet wird. Die Tierra de Campos – das land der felder – kündigt sich an.

Die felsen in und um Najera sind so rot wie die erde im Rioja-gebiet. Najera selbst ist ein altes städtchen, das durch das kloster St. Maria la Real bekannt ist. Das ürsprüngliche kloster aus dem 12. jahrhundert steht nicht mehr, sondern ein bau aus dem 15. jahrhundert, dessen kreuzgang spätgotische und platereske elemente harmonisch verbindet.

Der ort selbst ist voller besucher, vor allem weil heute markttag ist. Der fluss Najerilla ist sehr flach und steinig. Sein nördliches ufer in der stadt ist als parkähnliche rasenfläche gestaltet, auf der viele leute ihre siesta halten. Ich hätte große lust ein fußbad zu nehmen und mich dann im gras zu sonnen. Aber ich will weiter. Eine der bekanntesten sehenswürdigkeiten und eine der seltsamsten anekdoten des gesamten camino wartet nämlich: der hühnerkäfig in der kathedrale von Santo Domingo de la Calzada.

Zunächst muss ich aber aus dem Najerilla-tal heraus und etwa 150 höhenmeter überwinden bis Azofra, einem pilgerort, der schon seit dem 12. jahrhundert ein pilgerhospital besitzt. Hier wie überall storchennester. Ich folge jetzt wieder der N 120 bis Santo Domingo, das von diesem heiligen gegründet wurde, der hier 1044 eine brücke über den Oca baute, einem kleinen fluss, der im sommer überhaupt kein wasser führt.

Beim eintritt in die kathedrale muss ich leider den fotoapparat abgeben und kann deshalb den berühmten hühnerstall nicht fotografieren, in dem seit hunderten von jahren ein weißes huhn und ein weißer hahn leben – die etwa alle drei wochen ausgetauscht werden – als erinnerung an folgende legende:

Im 14. jahrhundert übernachtet ein deutsches ehepaar mit seinem jungen sohn auf der pilgerschaft nach Compostela in einem wirtshaus in Santo Domingo. Eine magd versucht den jungen mann zu verführen, der sie aber zurückweist. Aus rache versteckt sie einen silbernen becher in den kleidungsstücken des gastes und bezichtigt ihn am nächsten morgen des diebstahls. Der junge mann wird ergriffen und gehängt. Bevor die eltern die pilgerreise fortsetzen, gehen sie nochmals zur hinrichtungsstätte. Dort hören sie die stimme des sohnes, der ihnen mitteilt, dass er noch am leben sei, weil der hl. Domingo ihn noch an den beinen halte. Sie suchen sofort den richter auf, der gerade einen gekochten hahn und ein huhn verspeisen will. Sie erzählen ihm von ihrer erscheinung. Der richter aber antwortet nur spöttisch, dass ihr sohn genauso lebendig sei, wie die zwei vögel auf seinem teller. Da wächst den beiden tieren auf einmal wieder gefieder, sie fliegen herum und gackern wieder und beweisen auf diese weise die unschuld des hingerichteten pilgers.

Während meiner besichtigung kräht der hahn gleich dreimal, was ich natürlich als gutes omen für das gelingen meiner pilgerreise deute. Außer den hühnern hat die kathedrale noch viel mehr zu bieten, vor allem einen barocken hochaltar, der den von Viana an größe und goldschmuck noch übertrifft. Aber auch die gemälde und die verschiedenen kapellen sowie der platereske chor sind mehr als sehenswert. Ich hätte hier mehrere stunden staunen können. Aber im ort kommen viele fußpilger an und so früh am nachmittag erhalte ich als radpilger noch keine zusage für einen schlafplatz.

Auf dem weg zur herberge komme ich an einer bar vorbei, in der mindestens 25 männer äußerst lebhaft die live-übertragung des tour-finales auf dem Mont-Ventoux verfolgen. Für umgerechnet 1,18 DM trinke ich während der übertragung an der theke ein glas einfachen aber leckeren rotwein.

Bis Compostela ist es jetzt nicht mehr ganz so weit (600 km). Aber die strecke wird eintönig. Die N 120 zieht sich unglaublich lang dahin. Deshalb verlasse ich diesen monotonen asphaltstreifen, um über den hier gut zu befahrenden camino mehr zu sehen von den dörfern und den menschen in der Provinz Kastillien-Leon. Der weg ist rotsandig und unglaublich heiß, denn kaum ein baum spendet schatten. Er verläuft ständig auf und ab, ist aber so gut beschildert, dass man sich nicht verfahren kann. Dabei durchfahre ich stille, fast ausgestorbene dörfer, in denen die auf der straße schlafenden hunde nicht mal ein ohr heben, wenn ich vorbei radle. In Granon spielt die dorfjugend im kleinen öffentlichen schwimmbecken neben der verwaisten Froton-wand, an der anscheinend bei kühleren temperaturen Pelota gespielt wird.

Vor Redecilla del Camino passiere ich die offizielle provinzgrenze zwischen La Rioja und Kastillien-Leon. Bis zu meinem etappenziel Belorado sind es jetzt nur noch 12 km auf der N 120, zu der der fußweg parallel verläuft. Auch in diesem kleinen städtchen römischen ursprungs ist das refugio schon belegt. Vor der herberge spricht mich ein etwas unbeholfen wirkender radler in bestem maasländischen platt an. Er kommt aus Ophoven bei Maaseik und ist seit pfingstmontag unterwegs auch über Vezelay und Troyes wie ich, dann aber via Auxerre, St. Leonard, Puy, Recamadour und Moissac – also über die klassische ‚via podensis‘ – nach St. Jean Pied de Port und von dort über den Ibaneta-pass – ohne abzusteigen, wie er stolz erzählt. Er fährt nur auf der straße, was für ihn auch sinnvoll ist, denn sein rad wirkt nicht stabil genug und zu schwer bepackt für holperstrecken. Der etwa 50jährige mann selbst scheint mir kein trainierter radler zu sein. Um den hals trägt er ein bronze-kreuz, das mich vermuten lässt, dass er geistlicher ist. Da er immer in refugios übernachtet, in Belorado aber kein schlafplatz mehr frei ist, will er jetzt noch weiter radeln nach Villafranca Montes de Oca, wo angeblich in zelten noch schlafplätze zur vefügung stehen. Da er heute in Logrono gestartet ist, hätte er dann 80 km zurückgelegt. Ich will nicht mehr weiter, bin müde genug.

Nur stellt sich die frage, wo ich schlafen kann. Selbst die in meinem pilgerführer genannten pensionen sind voll. In der pension ‚Toni‘ hätte ich ein letztes dreibettzimmer für 5000 peseten haben können. Da gehe ich lieber ins hotel am ortsausgang, in dem ich für 3.500 (ca. 41 DM) ein einzelzimmer mit dusche bekomme und mein rad in einer riesigen kellergarage abstellen kann.

Gegen 20.30 uhr esse ich im hotel zu abend. Ein vier-gänge-menu, bei dem der wein – wie üblich in Spanien – inbegriffen ist. Bei mir am tisch sitzt ein 69jähriger schweizer, der als fußpilger von St. Gallen nach Compostela geht. Er ist ein sehr hagerer und feinsinniger mann. Seine ausdrucksweise ist ein wenig altmodisch, aber sehr klar und direkt. Als mich Gabrieles anruf am tisch erreicht, fragt er mich anschließend, warum ich das handy mit hätte. Als ich ihm sage, dass ich damit die verbindung zu meiner familie und meinen freunden halte und damit meine angehörigen auch beruhige, lächelt er nur und erzählt, dass seine frau lange und vor allem weite reisen in exotische länder unternehme, während er immer nur wandern würde. Dabei seien sie oft wochenlang getrennt, aber stets in verbindung – gedanklich – nicht nur ohne handy, sondern auch ohne anrufe, karten oder briefe. Und was die beruhigung angehe, glaube er genauso wie seine frau, dass alles so passieren müsse, wie es passiert. Er mache sich schon lange keine unnützen gedanken mehr über die zukunft. Früher habe er auch vorausschauend und planend versucht sein leben zu gestalten. Jetzt sei er viel zufriedener und ruhiger geworden, weil er einfach akzeptiere, wie sich das leben für ihn entwickele. Obwohl ich ihm nicht zustimmen kann und nicht so leben könnte, beeindruckt mich der mann, sicherlich wegen seiner gelassenen art, aber mehr wegen seiner fitness und seines unternehmungsgeistes.

Rote erde, roter wein – Rioja