Tief im Westen

Liepaja, 21. 08. 2014

Vom Kap Kolka fahre ich seit Dienstag an der Westküste Lettland runter nach Litauen. Über Ventspils, Pavilosta und Liepaja fahre ich ins litauischen Klaipeda, wo ich eine Fähre nach Schweden nehmen will. Zusammen sind das etwa 320 km, für die ich zunächst drei Tage angesetzt habe, schließlich aber vier brauchen werde. Woran das liegt, brauche ich nicht zu erwähnen. Über Gegenwind schreibe ich ja nicht mehr.

Aber über Regen oder eher darüber, wie ich Radfahren bei Regenwetter Dienstag erlebt habe: Seit Sonntag regnet es wieder jeden Tag. Schon morgens wenn ich los fahre. In Kolka so schlimm, dass selbst die resolute Wirtin mir vorschlägt, doch noch etwas abzuwarten. Aber worauf warten? Es regnet ohnehin ständig. Mal stärker, mal nieselnd. Manchmal scheint auch die Sonne. Zwischendurch leuchtet ein Regenbogen auf.

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Rückblickend fallen mir von den drei letzten Tagen Erlebnisse ganz unterschiedlicher Art ein:

Am ersten Tag fühle ich mich stark und dem miesen Wetter gewachsen. Ich kann nicht nur abends nach  100 km in Ventspils zufrieden zurück blicken auf den Tag. Auch auf der Strecke habe ich schon echte Glücksgefühle. Eine zufriedene Genugtuung verspüre ich, weil ich mit der heutigen erhöhten sportlichen Herausforderung durch die miesen Umstände so gut fertig werde. Ich merke, ich kann heute gut gegen diesen Sturm und Regen an. Ich schaffe die Strecke, auch wenn sie heute besonders schwer ist. In der Anstrengung lächele ich sogar manchmal  in mich hinein, wenn ich z. B. eine dieser wie ein seitlicher Hieb auf mein bepacktes Rad  einschlagenden Böen parieren kann. Oder wenn ich die Brillengläser wieder einigermaßen sauber wische und die feinen Sandkörner ausspucke, nachdem ein zu nah vorbei fahrender Volvo mir eine dreckige Spritzwasser-Fontaine übergeschüttet hat.

Klar brülle ich ihm „Du Arsch“ hinterher, muss aber auch darüber lachen. Ich fühle mich nicht mitgenommen oder gar verletzt. Durch so eine Rücksichtlosigkeit komme ich nicht zu Schaden. Indem ich sie einfach wegstecke und weiter fahre, fühle ich mich noch stärker, noch besser. Selbst als genau dann ein neuer kräftiger Regenguss runter kommt, als nach einer sonnigen Dreiviertel-Stunde mein Rücken gerade wieder warm wird und ich auch meine Zehen in den nassen Schuhen wieder fühle, selbst in dem Platzregen spüre ich keinen Ärger, keine Enttäuschung. Ich weiß, noch eine gute Stunde und dann hab ich’s geschafft. Auf den letzen Kilometern über die neuen glatten Radwege um und in  Ventspils werde ich immer schneller. Heute bin ich echt gut drauf. Morgen ist ein anderer Tag.

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Da ich gestern Abend auf der Karte gesehen habe, dass ich heute auf den ersten 50 km nicht durch ein Dorf komme, habe ich in Kolka mehr Proviant eingekauft als üblich. Dennoch will gegen 14.00 Uhr einen Kaffee trinken und vielleicht etwas Warmes essen. Es ist aber gerade trocken. Dann will ich ja eigentlich weiter radeln. Trotzdem biege ich rechts ab  Richtung Meer in eine der unbefestigten Stichstraßen, die von der Hauptstraße zu den kleinen Orten, Einzelgehöften oder Feriensiedlungen führen. Zufällig komme ich nach Mikelbaka, ein idyllisch direkt am Meer gelegener Ferienhof mit Holzhäusern, Hütten, Zeltplatz und Restaurant. Überragt wird er von dem nahen weißen Leuchtturm. Außer einem älteren kleinen Wohnwagen sehe ich nichts, was auf die Anwesenheit von Feriengästen schließen lässt. Eine der beiden Frauen, die an den Blumenkästen auf der Terrasse und im angrenzenden Gemüsegarten arbeitem, bietet mir Pommes mit Wurst und Salat an, als ich frage, ob ich was essen könnte. Die anderen Gerichte der Speisekarte sind heute nicht im Angebot. Bier ist auch im Moment alle. O-Saft, Nescafé oder Tee kann ich trinken.

Während ich warte, ziehe ich meine nassen Schuhe und die verschwitzten Regenklamotten aus, hänge alles über ein Geländer in die Sonne, ziehe dicke Socken an und lege mich auf die sonnige Holzterrasse. Meine Füße sind schnell wieder warm. In den vom Dauerregen rot-kalten Beinen lässt die Wärme das Blut wieder wohltuend zirkulieren. Die warmen Strahlen trocknen mein besonders am Bauch nass geschwitztes Unterhemd. Weil die Bretter noch etwas feucht und nicht warm genug sind, lege ich mich auf mein Strandhandtuch. Am Rücken ist mir jetzt nicht mehr so kalt. Über mir ziehen weiße Federwolken in rascher Folge vorbei. Verträumt blicke ich ihnen nach und fange an, mit den Augen zu kneifen. Wenn Möwen vom nahen Meer nicht so schrill herüber kreischten, wäre ich eingeschlafen. In Mikelbaka macht auch der Regen mit mir Mittagspause. Leider nicht mal eine Stunde.

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In Ventspils sind die Kühe erwähnenswert. Vielleicht auch noch der Hafen. Seit einer Kunstaustellung vor einigen Jahren stehen ganz besondere Kühe an vielen Stellen in der Stadt. Ich weiß zwar nicht, welchen Bezug die Hafenstadt zu Kühen hat. Aber die bunten Skulpturen fordern Bürger und Besucher zum bewussten Schauen und Schmunzeln auf.

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Abends scheint in Ventspils die Sonne so schön warm in mein Zimmerfenster, dass meine mit Zeitungspapier ausgestopften Schuhe und meine Socken wieder trocken werden. Aber am nächsten Morgen sind sie nach fünf Kilometern schon wieder durch und durch nass. Dann gerate ich versehentlich auf ein unbefestigtes Teilstück des R 10. Fast 13 km kleben die Reifen meines schweren Rads in dem durch den Dauerregen aufgeweichten Kies einer breiten Waldtraße, bis ich wieder zur asphaltierten P 111 komme. Ein blauer Fleck am rechten Schienbein ist die einzige Folge eines leichten Sturzes, als ich mit dem Vorderrad im feuchten Sand wegrutsche. Nicht nur, dass der Sand mir die Taschen versaut, auch Kette, Schaltung und die Umlenkrollen der Bremsen muss ich säubern und schmieren, als es mal gerade micht regnet.

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In Pavilosta – laut Lonely Planet einer der angenehmsten Badeorte im Kurland, weil auch im Sommer nicht überlaufen, gemütlich, überschaubar und doch an tollem Strand gelegen – ist das „Wind-Paradies“ (www.veju-paradize.lv)  besonders zu erwähnen: ein kleines herrlich gelegenes von jungen locker engagierten Leuten geführtes Hotel, geschmackvoll eingerichtet mit Bücherwand und geselliger Empfangstheke, gutem Restaurant, kleiner Speisekarte und einfachen aber komfortablen Zimmern.

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Das gönne ich mir nach einem Mittwoch-Tief nasser, stürmischer, kälter und nieder schlagender, als alles was ich diesen Sommer erlebt habe. Aber Im wohnlichen „Wind-Paradies“, in dem sogar eine Fußbodenheizung  mein Bad erwärmt und meine Sachen trocknet, fühle ich mich nach dem Abendessen schon wieder wohl.

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Am Donnerstag nehme  ich in Liepaja schon um 14.00 Uhr ein Zimmer, in dem schönen alten Holz-Gäste-Haus des Fontaine-Hotels, in dem ich auch schon auf dem Hinweg geschlafen habe. Es hat wieder so viel geregnet. Und kühl ist es jetzt auch noch geworden. Dann komme ich eben einen Tag später zur Fähre.