WEH MUT

Pilsen, 08.05.09

Wien umfahre ich großzügig auf nördlicher seite. Kurz zweifele ich, ob ich nicht doch mal durch den Prater radeln soll. Ich weiß gar nicht, ob ich es dürfte. Es wären mir auch zu viele großstadt-kilometer, bevor ich den park genießen könnte. Wenn ich auf den niederösterreichischen landstraßen so vor mich hin radle, weiß ich, dass allmählich das ende meiner reise naht. Auf dem letzten teil der reise brauche ich keine neuen eindrücke mehr. Ich hab genug damit zu tun, alles zu sortieren, zu filtern und zu speichern, was ich erlebt und gesehen habe. Immer wieder kommen bilder von der reise in mir hoch. Meere und berge, wüsten und städte, moscheen und basare. Und all die freundlichen menschen. Mit dem film rollen immer wieder auch tränen.

Jetzt ist es mir lieber, dass ich mich in einer umgebung bewege, die mir gewohntes biete. Die beruhigend und ausgleichend wirkt. Die die aufgestaute bilder- und erlebnisflut in mir glättet. Im biederen österreichischen Weinviertel und im sich anschließenden noch ruhigeren Waldviertel war ich zwar noch nicht. Aber hier finde ich nichts spektakuläres, suche auch nicht danach. Hier erlebe ich nichts aufregendes. Hier ist alles geregelt. Bei den discountern kaufe ich proviant. Campingplätze sind kilometerweit vorher ausgeschildert. ‚Zimmer frei‘ lese ich in jedem ort. An der langweiligen Donau entlang zurück fahren, den gleichen weg, den ich im vorigen sommer gekommen bin, mag ich nicht. Die übernachtung in einer einfachen privatpension in Hainburg kostet 25 €. Mit essen und trinken gebe ich an so einem tag in Österreich 50 € aus. So viel habe ich zum ende meiner reise nicht mehr übrig.

Darum wähle ich den rückweg durch Tschechien. Die strecke wird hügelig. Sowohl in Böhmen, als auch später in der Oberpfalz und im Thüringer Wald. Auch wenn ich vor dem Pamir gekniffen habe, berge unter 1000 m traue ich mir schon zu, nachdem ich mehr als 14000 km trainiert habe.

Im grenzort Gmünd finde ich einen neuen campingplatz – wieder an einem „Sol- und Felsenbad“. Er ist preiswert und besonders komfortabel ausgestattet. Das angenehmste für mich warmduscher nach kühlen, windigen 115 km an diesem tag ist der per fußbodenheizung erwärmte sanitärbereich. Welch eine wonne: nach ausgiebiger heißer dusche mich abtrocknen in einem beheizten raum mit ausreichend wandhaken auf sauberen, warmen fliesen statt in kalten zugigen fluren von einem bein aufs andere zu hüpfen mit der unterwäsche unter arm und den Tevas an den füßen, um bloß nicht mit nackten füßen den dreckigen, feuchten boden betreten zu müssen. Jemand, dem das so wichtig ist wie mir, sollte besser nicht nach China radeln! Zwei nächte bleibe ich dort, weil es am mittwoch den ganzen tag regnet.

Auf den ersten 100 km in Tschechien trödele ich auf schmalen alleen von dorf zu dorf. Jedes örtchen hat sein weißes kirchlein mit farbigen umrandungen. Jedes seinen teich. Fast jedes einen unregulierten bach und eine brücke, natürlich mit einer statue des hl. Johannes von Nepomuk, dessen geburtsort ich auch kurz besuche. Mal säumen frischgrüne linden die straße. Mal blühende kastanien. Westböhmen hat noch viele chausseen wie in den 50er jahren bei uns. Der autoverkehr bis Budweis ist auch so spärlich wie damals. Belag, beschilderung und markierung der straßen sind aber zeitgemäß. Mehrmals verbinden kilometerlange, leider bereits verblühte apfelbaum-alleen die kleinen gehöfte.

Um zu schildern wie arm er als kind war, erzählte mein vater von den apfelbäumen zwischen Isenbruch und Havert. Vor dem ersten weltkrieg hatte sein geburtsort zwar eine einklassige schule, aber einige zeit keinen lehrer. Die Isenbrucher kinder gingen dann in Havert zur schule. Vier mal am tag liefen sie – die meisten auf holzschuhen – die zweieinhalb kilometer. Die straße war gesäumt mit gemeindeeigenen apfelbäumen. Es war verboten, die reifen äpfel im herbst zu pflücken. Die kinder hatten solchen hunger, wenn sie aus der schule kamen. Sie konnten der versuchung nicht widerstehen. „De boae“ – der dorfpolizist – erkannte an den herunter gerissen ästen und blättern, wenn apfelklau statt gefunden hatte. In solch „schwer wiegenden fällen“, berichtete er dem lehrer von dem mundraub der Isenbrucher schüler. Stockhiebe auf die finger waren die übliche strafe für die jungen. Die mädchen aßen zwar mit, standen aber nicht im verdacht äpfel zu stehlen, wurden auch nicht bestraft.

Die böhmischen kleinstädte und auch das durch sein bier weltbekannte Ceske Budejovice, wie Budweis tschechisch heißt, strahlen wohltuende gemütlichkeit und gepflegte gastlichkeit aus. Die schmucken beplanzten und gepflasterten plätze mit farbigen kirchen, giebel verzierten häuserzeilen und blumengeschmückten wirtshaus-terrassen wirken fröhlich charmant. Wie die bankangestellte, bei der ich euro gegen tschechische kronen tausche. Wie der ober im kaffeehaus, der mir die zur auswahl stehenden kaffeesorten erklärt. Wie der wirt in einem restaurant außerhalb Piseks, der schon abends um sieben uhr schliesst, als ich dort anhalte. Er zapft mir netterweise noch zwei bier und erlaubt mir auf dem rasen hinter dem gasthof zu zelten. Sie alle sprechen dieses böhmisch gefärbte deutsch ‚des braven soldaten Schweyk‘, bei dem ich den sprechenden immer die gleiche liebenswerte, verschmitzte gelassenheit unterstelle wie der romanfigur.

Der 8. mai ist tschechischer nationalfeiertag. Tags zuvor fallen mir schon die vielen mit rädern beladenen pkw auf. Das lange wochenende nutzen viele zu einem radausflug. Radfahren scheint in Tschechien sehr populär. Meist auf ausgeschilderten radrouten in den fluss- und bachtälern. Radfahrer aller alterstufen sehe ich. Alle in sportlicher kleidung. Die mehrheit mit helm.

Die wenigen rennradler, die ich auf der N 20 treffe, lassen mich alle schnell hinter sich. Nur einmal kann ich einem „jungen wilden“ so lange folgen, dass es mir sogar gelingt, ein foto von ihm zu machen. Bis weit in den nachmittag hinein ist auf der straße nach Pilsen kaum verkehr. Genussvoll strampele ich die hügelige strecke ab. Schwungvoll rollen landschaft und rad rauf und runter. Wie gut mir das satte grün der wiesen gefällt, die verschiedenen grüntöne und unterschiedlichen baumformen des mischwaldes, die vielen kleinen seen und teiche. Böhmen ist ein radparadies, wenn einem hügel nichts ausmachen.

Irgendwann bin ich wieder im orient. Die verschleierten frauen. Die verkäufer und händler. Die bettelnden kinder. Hirten mit ihren eseln am lagerfeuer. Beduinen auf ihren kamelen an den zelten. Schwer bepackte träger in den häfen. Gedanken verloren hänge ich den heißen tagen in Arabien nach. Selbst vergessen krame ich in den erinnerungen an die zeltabende mit Markus. Wehmütig blicke ich zurück auf all die begegnungen mit unerwartet welt offenen und weit sichtigen weggefährten. Mehr als fünf stunden brauche ich bis Pilsen. Unterwegs habe ich nur das radlerfoto im fahren gemacht. Und auch nur einmal pause. Dabei war ich doch so weit weg.